In Thüringen wird der neue Landtag gewählt. Hier wurde einst die SPD gegründet. Und heute? Die Chancen der Sozialdemokraten sind begrenzt, vielleicht werden sie hier der Juniorpartner der Linkspartei.

Ob Bodo Ramelow, der exzentrische blonde Hesse mit der Supermarktstimme und der sympathischen Leseschwäche, ob dieser eigenwillige Marxist und Schutzengel-Gläubige (er hat einen Engel auf dem Schreibtisch), ob dieser Mann aus dem Westen, der sich seit seinem Kampf für die Kali-Bergwerker von Bischofferode 1993 “street credibility” im Osten erworben hat, ob also dieser mal zartsinnige, mal polternde politische Teppichverkäufer ersten Ranges tatsächlich auch der erste linke Ministerpräsident des Landes Thüringen, ja eines Bundeslandes überhaupt werden kann, hängt unter anderem von Heidrun Sachse aus Eisenach ab.

Sie ist Landtagskandidatin der SPD in Eisenach, und wenn die Prognosen für die Landtagswahl am 14. September hinhauen – CDU 34, Linke 26, SPD 19, Grüne sechs Prozent –, wird sie nach dieser Wahl in einer Mitgliederbefragung aufgerufen, den künftigen Kurs der Partei im Land zu bestimmen und wohl mittelfristig auch bundesweit zu beeinflussen.

Keiner traut der braven SPD-Spitzenkandidatin und Ingenieurin Heike Taubert zu, gegen die regierende CDU-Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht Boden gutzumachen, geschweige denn gegen den bundesweit ausstrahlenden LinkenBodo Ramelow.

Bis auf Weiteres also wird die SPD in Thüringen dritte Kraft bleiben, aber sie kann entscheiden, wer erste wird. Die Alternative für Heidrun Sachse heißt: Weiter mit Schwarz-Rot oder tatsächlich die rot-rote Option, eventuell mithilfe der Grünen. Elende Politik!

In Thüringen gibt es nur 5000 SPD-Mitglieder

Man kann sagen, der SPD ging es, gerade hier in Eisenach, schon mal besser. Derzeit gibt es 88 Mitglieder, in den vergangenen Monaten haben fünf Mitglieder die Partei verlassen. Von den insgesamt noch verbliebenen 5000 thüringischen Genossen erwartet die Bundes-Partei mit der Mitgliederbefragung nun so etwas wie ein römisches Eingeweide-Orakel über den Kurs der Partei, ein wenig ratlos wie der Senat im alten Rom. In Sachsen konnte die Partei nur 12,4 Prozent der Wähler für sich gewinnen.

In bundesweiten Umfragen liegt die SPD so festgemauert in der Erden wie Schillers Glocke, und zwar bei 25 Prozent, egal, was ihr lärmendes Agenda-Setting und der Triumphjubel über eingelöste Wahlversprechen wie Mindestlohn, Rente mit 63 und Kita-Ausbau an Traumergebnissen erhoffen ließen.

Da rührt sich nix nach oben. Entsprechend gleichmütig ließ die eiserne Kanzlerin diese Aufgeregtheiten durchwinken. Sie weiß, gegen sie ist nichts zu holen, besonders jetzt nicht, da Weltpolitik gefragt ist. Das muss besonders hier in Eisenach wehtun. Denn hier, im “Hotel zum Goldenen Löwen”, wurde die Partei vor genau 145 Jahren unter der Regie eines meisterhaft operierenden August Bebel nach spektakulären Tumulten aus der Taufe gehoben.

Treffen mit Heidrun Sachse, pausbäckig und glänzend im Nieselregen auf der Zugbrücke der Wartburg hoch über der Stadt, hinter ihr das Erkerzimmer, in dem Luther das Neue Testament übersetzte, wortgewaltig, wirkungsmächtig wie kein zweites Buch in deutscher Sprache. Im Übrigen weilte rund dreihundert Jahre vor ihm hier auf der Wartburg die heilige Elisabeth, die junge ungarische Prinzessin mit ihrem Rosenwunder, die die Armen und Kranken unten im Tal verpflegte, also im Grunde eine SPD-Idealfigur abgab.

Jesus als Mann der Verteilungsgerechtigkeit

Vielleicht ist ja das Problem, dass sich SPD und Linke in ihrer Kultur- und Sozialagenda so ähnlich sind, und das geht bis ins Bibelverständnis hinein. Ramelow “eckt”, wie es auf seiner Homepage heißt, “an mit seinem christlichen Bekenntnis”, das allerdings jetzt nicht diesen Wasser-in-Wein-Verwandlungs-Jesus meint, sondern eher die historisch-kritische Lesart, also Jesus als Mann der “Verteilungsgerechtigkeit”, um es einmal mit der Bibel der gerechten Sprache zu formulieren, die allerdings, das muss auch mal gesagt werden, längst nicht so schön ist wie die Luthers.

Auch Heidrun Sachse ist protestantische Christin. Auch sie nicht als Wundergläubige, sondern eher im Sinne der Gleichheitsforderung, bei ihr ist es die zwischen den Geschlechtern, die sich vor allen in der Textstelle “Gleicher Lohn für gleiche Arbeit” manifestiert, keine Ahnung, wo genau die jetzt zu finden ist, aber die ganze Bergpredigt läuft darauf hinaus. Gerade hat sie in der Wartburg einer Feierstunde beigewohnt, in der der Kultusminister des Landes einen 900.000-Euro-Scheck übergeben hat zur Reparatur der Klimaanlage in den Museumsräumen.

Heidrun Sachse würde sich ebenfalls über einen Scheck freuen. Es müssten nur 70.000 Euro sein, denn so viel kostet der Fassadenerhalt des “Goldenen Löwen”, grünblau, klassizistisch, böser Zustand, etwa DDR 1989. Der SPD scheint diese heilige Halle nichts mehr wert zu sein.

Nicht zu stoppen diese Blutungen

Drinnen in drei Räumen des ersten Stocks eine Serie von Stellwänden, eine Wanderausstellung, die die Geschichte der Partei bebildert und beschriftet, ihren Heroismus, ihr historisches Pathos, deutsche Geschichte und die dunklen Stunden im Osten, als sie an der Brust der KP zu Tode gequetscht wurde.

Und natürlich Willy und Schmidt und Schröder und Peer und Gabriel, und das Ausbluten und langsame Vertröpfeln einer großen Volkspartei, die tun kann, was sie will, die Bindungskräfte lassen nach, nicht zu stoppen diese Blutungen, nirgendwo, die Kirchen verlieren, die Gewerkschaften, wahrscheinlich auch die Freiwillige Feuerwehr. Wer will sich noch festlegen in diesen Zeiten und binden?

Beim letzten Wahlgang 2009 hatte Bodo Ramelow in Thüringen ein Spitzenergebnis eingefahren – und es gab tatsächlich eine Mehrheit links von der CDU –, hatte sich dann allerdings auf dem Weg zur Koalitionsbildung allzu “siegesbesoffen” verdaddelt, und das bei einer hauchdünnen Mehrheit von einer Stimme, hatte Heidrun Sachses SPD mit Gedröhne unter die Koalitions-Fittiche der CDU und ihrer Spitzenkandidatin Lieberknecht getrieben. Die Grünen hatten die Koalitionsgespräche schon vorher abgebrochen. Diesmal gibt sich Bodo Ramelow bescheidener, geläuterter, diesmal soll auch für die SPD alles viel offener ablaufen, offen nach links, ausdrücklich.

Die SPD als Juniorpartner der Kommunisten?

Heidrun Sachse, Listenplatz 21 der SPD, hat Ramelow nie persönlich getroffen. Aber sie ist, nun ja, auf eine sehenswert begeisterungsarme Art neutral. Das hat Gründe, geschichtliche, wie man sich denken kann. Die SPD als Juniorpartner der Kommunisten? Das hat natürlich empfindliche historische Echowellen im Osten ausgelöst, wo die SPD schon einmal in der KP aufgelöst wurde wie in einem Säurebad.

Heidrun Sachse hatte bis vor zwei Jahren als persönliche Referentin für OB Matthias Doht gearbeitet, bis der – schwarze Stunde für die Eisenacher SPD – nach der Kommunalwahl vor zwei Jahren von der Linkskandidatin Katja Wolf abgelöst wurde. Sachse war elf, als die Mauer fiel, ihre Mutter war lange vor der Wende in die SPD eingetreten, und sie glaubt, dass viel erreicht ist.

Sie studierte, unter anderem in Baton Rouge, Louisiana, sie nutzte die neue Freiheit für ihr politisches Engagement. Vielleicht, sagt sie, leide Thüringen immer noch ein wenig unter dem Image des Billiglohnlandes, der vielen kleinen Selbstständigen, findig und pfiffig, aber kaum Nennenswertes an Gewebesteuern einspielend, ansonsten habe man doch Pfunde, mit denen zu wuchern sei.

Der Restfunken im Osten

Kulturlandschaft, Klassik-Landschaft, Weimar und Jena, und hier in Eisenach wurde Bach geboren. Natürlich ist Heidrun Sachse auch Mitglied im Förderverein der Musikschule Johann Sebastian Bach. Ihr Spezialgebiet, ihr Kompetenzbereich sozusagen, ist die Kultur. Und sie ist, das sowieso, im Bündnis gegen rechts engagiert; da ist viel zu tun, besonders in Thüringen. Rechts gegen links und umgekehrt, das hat noch Restfunken im Osten.

Da ist das besondere thüringische Paradox, mit dem der nimmermüde durchs Land wandernde Genosse Bodo Ramelow in den letzten Tagen des Wahlkampfs zu punkten gedenkt. In sein Tagebuchlog lässt er eintragen, wie begeistert ihm die Menschen begegneten und wie sehr sie ihm die Regierungsverantwortung zutrauten. Ansonsten Ideologisches. Kurz vor der Wahl wird das Buch “Ein gewisser Herr Ramelow” der Presse vorgestellt, in dem dokumentiert wird, wie sich der Linke “gegen unlautere Bespitzelung durch deutsche Geheimdienste zu wehren hatte”.

Dass nämlich die Verfassungsschutzbehörden, die im NSU-Skandal eine geradezu kriminelle Blindheit gegen rechtsradikale Killer an den Tag gelegt hatten, gegen ihn, Mitglied und Mitkopf einer demokratischen Partei, seit drei Jahrzehnten ermittelten und schnüffelten und nun auf Weisung aus Karlsruhe damit Schluss machen mussten, ist ein Sieg des wehrhaften Bürgers Ramelow.

Auch eine Art von Widerstandsvita

So erhält plötzlich auch Bodo Ramelow eine Art Widerstandsvita, eine Überwachungsvita, nur spiegelverkehrt und in ihren Auswirkungen doch weniger lebensbedrohlich, als es in Hohenschönhausen für die Dissidenten der Fall gewesen war.

Mit Marion Wallrodt beschäftigte der linke Spitzenmann wissentlich eine ehemalige Stasi-Referatsleiterin, eine Genossin Hauptmann, die für zwei Jahrzehnte linientreuer Menschenzerstörungsarbeit mit der NVA-Verdienstmedaille in Silber ausgezeichnet wurde.

Ein argloser, unempfindlicher, vielleicht aber auch ein gerissener Ramelow? Vielleicht ahnt er, dass ihm genau dieses Zwielicht dann doch die vorteilhafteste Beleuchtung gewährt, hier im Osten, wo er ankommen möchte, auch bei Älteren, die das Gefühl haben, hier versteht einer was von den ideologischen Komplikationen einer Wende-Biografie, obwohl er aus dem Westen ist. Und von Verrat, von Strategie und Taktik, ohne die eine linke Partei verloren ist, sowieso.

Die prächtigen Figuren der Sozialdemokratie

Kompliziertes Thüringen. Heidrun Sachse also ist sich längst nicht sicher, wofür sie sich entscheiden wird. Für die Demütigung, ein weiteres Mal einer Konservativen aus Weimar zum Machterhalt zu verhelfen. Oder einem Linken aus dem Westen, der seine Lektion vielleicht eine Spur zu gut gelernt hat.

Was hatte sie doch einst für prächtige, unvernünftige Figuren, die Sozialdemokratie! In diesen Tagen wird an den 150. Todestag Ferdinand Lassalles erinnert, romantischer Feuerkopf, Künstlerfigur begnadeter Redner. Er starb in einem Liebesduell, das er selber provoziert hatte. So einer hatte den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein gegründet. In Eisenach ging’s ein paar Jahre später dann weiter – mit der Sozialdemokratie.

Erschienen am 03.09.14 www.welt.de