Nach dem Referendum droht Griechenland politisches Chaos und Armut. Die Bürger aber bringt das kaum aus der Ruhe. Auf den Demonstrationen geht es eher zu wie auf Volksfesten im Berlin der 70er-Jahre.

Nein, nicht leer. Eine blonde, leicht magersüchtige junge Frau stellt sich als Pressedame vor, sie ist auf dem Weg nach draußen, wir setzen uns in die leere Kantine im ersten Stock. Ob sie nicht auch findet, dass die Empfehlung, mit “oxi” (sprich: ochi), also mit “Nein” zu stimmen, verstanden wird als Nein zum Euro und nicht etwa als besonders verhandlungsstarkes Ja für die Euro-Zone? Und dass die Jastimmen so zulegen, weil sie auf alle Fälle drinbleiben wollen in der Euro-Zone. Ach, diese verwirrende griechische Politarithmetik!

Früher, zu Zeiten der Polis, gab es rote und schwarze Scherben, und das war’s.

Also auf politische Fragen, sagt Twiggy mit ihren babyblauen Augen nervös, kann sie eigentlich nicht antworten.

Was wird aus Tsipras im Falle einer Niederlage, müssten dann nicht Neuwahlen angesetzt werden? “Hören Sie, das hat keinen Sinn.” Sie hat die Nase voll von dieser negativen Fragerei. “Aber ich hab hier Hunderte von Aktivisten erwartet, die Flugblätter und Ähnliches abholen, jetzt hab ich den Eindruck, da findet gar nichts statt.” “Es findet statt”, und wie zur Bestätigung spricht Tsipras jetzt im griechischen TV, wir schauen uns das unten im Empfangsraum an.

Der junge Premier mit seinen buschigen Augenbrauen steht vor einer beeindruckenden Wand aus ledergebundenen Büchern. Er schaut ernst in die Kamera, er spricht leidenschaftlich, er dankt dem griechischen Volk für die Geduld (diese unschönen Bilder der Schlangen vor den Kassenautomaten, der wütenden oder erschöpften Rentner in der Schalterhallen der Banken!) ja, sagt er, das Referendum werde stattfinden, offenbar hatten auch andere Zweifel, und es sei nicht nur eines für Griechenland, so sagt er, sondern auch für ganz Europa!

Tatsächlich, er knöpft sich die undankbare Europäische Union vor, die autokratisch und prinzipienlos sei, er werde ein Europa der Werte aufbauen.

Ein Evergreen. Schon früher hat er gedroht: Sollten die Gelder der Europäer nicht nach Griechenland fließen, werde das europäische Projekt am Ende sein.

Von Griechenland lernen heißt siegen lernen

Man muss sich das vorstellen: Der Premier des Landes, das sich den Beitritt zum Euro erschlichen hat und danach lange über seine Verhältnisse gelebt und Schulden angehäuft hat, dieser Premier droht, das europäische Projekt in die Luft gehen zu lassen, sollten die Gläubiger nicht auf Rückzahlungen verzichten. Logisch, dass den Polen, den Esten, den Portugiesen der Kamm schwillt über dieses griechische Demokratieverständnis.

Ja, die Demokratie. “Wir haben nicht das Recht”, sagte er zuvor, “die Demokratie an dem Ort zu beerdigen, an dem sie geboren wurde.” Beschäftigen wir uns also mit Demokratie. Von Griechenland lernen heißt eventuell siegen lernen.

Stellen wir uns also in den langen Atem der Geschichte, setzen wir uns dem uralten Raunen vom Beginn unseres Abendlandes aus, und kein Ort könnte geeigneter sein als das “MoMA”, ein “posh” Restaurant in der Adrianou. Es liegt am Rande der alten Athener Agora mit der Stoa des Attalos. Diese ist mittlerweile von einem Spraydosenkünstler auf die Höhe der Zeit gebracht worden, er hat sie mit seinen geblähten Wurstbuchstaben verziert, entziffern lässt sich “M1fuck” und, tatsächlich, “Sorge”.

Kein Geistergewisper von dort drüben, aber hier doch ebenfalls die Verhandlung öffentlicher Angelegenheiten, die Geldautomaten versiegen, allerdings hat der lässige grau melierte Ioannides, der mit seiner Frau bei einem Glas Wein sitzt, sein Schäfchen wohl im Trockenen. Ja, die Zeiten seien nicht gut, auch für ihn als Architekt nicht, aber dafür seien sie bombig gewesen vor 2004, als die Olympischen Spiele hier ausgetragen wurden, und ebenso bombig in den Anfangsjahren des Euro. Natürlich werde er mit Ja stimmen, das Land brauche den Euro. An den anderen Tischen Athens Jeunesse dorée, kichernde Modemädchen, Jungs hinter dunklen Sonnenbrillen beim Bier, schließlich trifft Katerina ein, mit der ich verabredet bin, eine Filmemacherin und entschiedene Tsipras-Anhängerin.

Katerina hat gerade an einem Film mitgewirkt, in dem die Krise mit Szenen aus der “Antigone” gegengeschnitten wird. Was hat Vorrang, Kreons Gesetz (die Troika) oder Antigones Humanität, in unserm Fall: der Schuldenerlass? Sagen wir es so: Es ist lange her, dass auf dieser Höhe nachgedacht und mitgelitten wurde, 2500 Jahre, so lang ist auch die griechische Demokratie her. Kann es sein, dass man aus der Übung ist in diesem “failed state” im Süden Europas, in dem offenbar fast nur die Idioten (oder Demokraten) Steuern zahlen, in dem die Korruption und der Klientelismus endemisch sind? Diesem sympathischen Land in unserem Herzen (Alexis Sorbas, die Filme von Costa Gavras, der Kampf gegen die Junta, Theodorakis, Vicky Leandros, die Windmühlen auf Paros, der Sonnenuntergang auf Santorin). “Was ich nicht verstehe, Katerina, wenn das Land so unter dem Euro ächzt, warum seid ihr nicht bei der Drachme geblieben?”

“Aber wir sind doch Europäer.”

“Das sind die Polen auch, und sie haben ihren Złoty beibehalten und sind gut damit gefahren.”

Was an diesem lauen Abend in Athens Bar-Viertel Plaka geradezu aufdringlich spürbar ist, ist die Gelassenheit, mit der die Menschen in den Staatsbankrott schlafwandeln. Die Tische sind voll besetzt, Gläserklingen, Musikfetzen, die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst. Keiner scheint der Dilettanten-Truppe, diesenSozialisten und verschlagenen Spieletheoretikern, die, statt endlich zu regieren, das Land im Kampf um Kohle mit ihren Manövern und Verhandlungstricks an die Wand gefahren haben, böse zu sein. Merkwürdige Polis. Doch über der Agora hängt der gleiche Mond wie vor 2500 Jahren.

Hauptsache, der Vorname des Vaters ist eingetragen

Für den nächsten Tag ist eine Fragestunde im Parlament angesetzt. An der Sicherheitsschleuse zum Presseamt chillen drei Männer hinter einem Tisch, kein Betrieb hier, einer schlägt ein zerfleddertes Heft im Breitformat auf, mehrmals wird der Name von mir buchstabiert, dann wird er, Buchstabe für Buchstabe, ins griechische Alphabet übertragen, Name des Vaters, die beiden anderen schauen gebannt zu und geben Ratschläge. Mit seinen zehn Millionen Einwohnern leistet sich Griechenland eine Million Beamte.

Die Sicherheitsschleuse funktioniert offenbar nicht oder ist nicht wichtig. Wichtig ist dieses Buch, in das die Namen samt Vorname des Vaters eingetragen werden. Oben, in der Pressestelle, zeigt man, wie es auch gehen kann. Ein Blick auf den Presseausweis, ein Stempel auf ein Stück gelben Karton, die Akkreditierung, nach 40 Sekunden bin ich wieder unten.

Auch vorm Presseeingang des Parlaments gibt es eine Sicherheitsschleuse, bewacht von einer großen aufregenden Jeansträgerin, schlank, schwarze Haare, meergrüne Auge, Typ Bondgirl, das Handy muss draußen bleiben, es wandert in ein weißes Kuvert, der Kugelschreiber auch.

Was? Der Kugelschreiber? Aber ich bin doch PRESSE, da ist der Stift Handwerkszeug! Bondgirl schaut böse. Also ins Kuvert mit dem Kugelschreiber.

Die Pressetribünen oben sind leer. Wie übrigens auch das Halbrund des Parlaments. Eine einzelne Dame links unten, die in einem Stapel von Papieren irgendwas sucht. Vorn die Parlamentssprecherin, die eine Anfrage zur Transportgesetzgebung verliest. Die Regierungsbank ist leer, alle ausgeschwärmt ins Land. Unten fünf Stenotypistinnen, gerade werden Anfragen zum Verkehrsrecht “behandelt”, ab sechs Uhr dann geht es weiter mit Anträgen zur Invaliditätsrente.

Die ist wichtig. Es gibt Hunderte Bestimmungen zur Erwerbsunfähigkeit, die zu früher Pensionierung und Rentenaufschlägen berechtigen, berühmt der Fall des Taxifahrers, der komplett blind war.

Draußen Musik. Lautsprechergeschepper. Draußen strömen die Tsipras-Unterstützer, die Nein-Sager, zusammen zu einer machtvollen Kundgebung auf dem Syntagma-Platz. Gedränge. Syriza, das Linksbündnis, führt seine Bandbreite vor. Ein Student hält seine Zeitung hoch, die “Revolution” fordert, Ansatz: trotzkistisch, er unterstützt das Nein und meint damit das Nein zum Euro. Aus den Lautsprechern tönt das “Einheitsfrontlied” auf Griechisch: drum links zwei drei, reih dich ein in die Arbeiter-Einheitsfront, weil du auch ein Arbeiter bist!

Die griechische Welt gegen den Rest

Büchertische. Erinnert verdammt an die in den frühen 70er-Jahren vor der TU in Berlin. Nur waren die, die damals die Raubdrucke von Adorno und Wilhelm Reich verhökerten, nicht an der Regierung. Hier, an einem der Tische mit Rosa Luxemburgs Schriften, hat sich ein bulliger, unrasierter Kettenraucher, Typ Lino Ventura, in die Diskussion mit einem amerikanischen Studenten gestürzt.

“Schau dir Detroit an, haben die ,big companies’ plattgemacht und die Pensionskassen verschwinden lassen.”

“Stimmt doch gar nicht.”

“Wo bist du her?”

“Aus Detroit”. Hm. Er versucht es anders.

“Das faschistische Regime dort drüben bringt die Schwarzen um.”

“Das ist ein bisschen komplizierter, wir haben einen schwarzen Präsidenten.”

Hm. Jetzt fällt sein Mitstreiter ein:

“Alle Regierungen sind schlecht.”

“Nein”, sagt der Junge aus Detroit, der an der Columbia Politikwissenschaften studiert, wie er mir später sagt, “Regierungen sind notwendig, sie sorgen dafür, dass wir Krankenhäuser haben und Schulen und Straßen.”

Hier prallen zwei Welten aufeinander. Beziehungsweise: die griechische gegen den Rest der Welt. Der Lino-Ventura-Typ sieht den Souvlaki-Spieß in meiner Hand. “Bist verrückt”, ruft er besorgt aus. “Schmeiß das weg, das ist Katzenfleisch, du wirst krank davon.”

 Der Hass gegen den deutschen Finanzminister ist groß
“F**k you, Schäuble”

Der Hass auf den deutschen Finanzminister

Der Brunnen auf dem Platz ist blau erleuchtet, die Straßenhändler machen Geschäfte, eigentlich ist das hier keine politische Veranstaltung, sondern ein Volksfest. Die Verhandlungen der letzten Wochen, besonders die Entscheidung zum Referendum, haben die Urlaubsbuchungen um 50 Prozent einbrechen lassen, und was ist Griechenland ohne seine Inselwelt, die Kykladen, die weißen Häuschen mit den blauen Fensterrahmen, und unter ihnen ist Santorin die unbestrittene Diva! Nichts wie hin.

Auf dem Weg zum Flughafen sagt der Taxifahrer, er habe einen Cousin dort, der größte Autoverleiher, 150 Autos, sieben Katamarane, ein Schnellboot, heute sei mein Glückstag, er könne da sicher einen besonderen Deal herausschlagen, gibt mir die Visitenkarte, und erzählt aus seinem Leben.

Seine Frau habe gerade eine Operation hinter sich, er habe es geschafft, sie in einer Privatklinik unterzubringen, weil sie dort die besseren Maschinen hätten. 25.000 habe die Behandlung offiziell gekostet, dazu noch mal 20.000 schwarz, alles sei gut gegangen. Santorin ist der Rest eines Vulkankraters, ein dramatischer steiler Felshalbkreis, der aus der Ägäis ragt, auf dem Meeresgrund soll das sagenhafte Atlantis liegen. An den Bergflanken steigen weiße Häuschen gipfelan wie schwindelfreie Ziegen, und wer nach Santorin fliegt, will nach Oia, in dieses Nest im Norden, in dem es den legendärsten aller Sonnenuntergänge zu bestaunen gibt.

Nicht einmal der Sonnenuntergang funktioniert

Wenn die Sonne kurz vor acht den unwahrscheinlich blauen Himmel über der unwahrscheinlich blauen Ägäis in Brand setzt, alles gelb und rosa und rot, und ihre Scheibe ins Meer senkt, dann wird applaudiert. Das ist so Sitte, wie in einer großen Oper.

Chinesen heiraten hier. Russen wie Artjom mit seiner Familie stehen hier und staunen, und er fragt gut gelaunt, ob ich überrascht sei, einen Russen ohne Gewehr zu sehen. Ob die Russen die Griechen rauspauken werden? Artjom, ein Nuklearphysiker, der jetzt sein Geld als Spezialist für Abwasseraufbereitung verdient, schüttelt fröhlich den Kopf. “Wir haben eigene Sorgen.”

Da ist Amit, ein 35-jähriger Inder mit seiner Frau, ein Finanzmakler aus Boston, der am Abend zuvor ebenfalls auf dem Syntagma-Platz stand und die Gesänge so schön fand, allerdings hat er offenbar nicht verstanden, WAS sie gesungen haben “drum links zwei drei, drum links zwei drei, wo dein Platz Genosse ist …” Armut, sagt er, sei wohl Definitionssache, in Indien sei das anders als in Griechenland. Auch er ist wegen des Sonnenuntergangs hier.

Hunderte haben sich durch die engen Gassen von Oia geschoben, das aus Souvenirshops und Restaurants besteht, alle weiß mit blauen Fensterrahmen, blauen Türen, die Disney-Version des griechischen Urlaubstraums, und nun stehen sie hier und schauen hinaus aufs Meer, und da schiebt sich doch tatsächlich eine Wolkenbank in den Horizont und liefert ein bisschen zerfließendes Violett und vermasselt alles. Noch nicht mal der Sonnenuntergang klappt in diesen Tagen.

Unter den originelleren Vorschlägen der Tsipras-Regierung, die Steuereintreibung zu forcieren, war nicht etwa die Liste der Steuersünder abzuarbeiten, die die IWF-Chefin Lagarde der Regierung übergeben hatte, sondern der Aufruf an die Touristen, die Bewirtungskostenzu prüfen und Verstöße zu melden. Dimitrios, Kellner in einer nahen Kneipe, klopft sich an die Stirn. Tsipras geht den Menschen zunehmend auf den Keks. Und in Athen hat inzwischen die “Ja”-Fraktion demonstriert, wesentlich machtvoller, als die der Neinsager. Die Automaten geben nun gar nichts mehr her.

Was würde Sokrates zu dem Schlamassel sagen? Lässt sich herausfinden, denn im University-Theatre am Fuße der Akropolis tritt er auf. Es ist Yannis Simonides, der die Apologie des Sokrates gibt, seine Verteidigungsrede vor Gericht, dieses Wunderwerk an Dialektik, durchaus boshaftem Witz, scharfem Verstand und dem alles überglänzenden Glauben an den guten Dämon, an einen Gott, an das nur in der Wahrheit gerechtfertigte Leben. Was für ein ernstes, auch komödiantisches Feuerwerk in dieser magischen Nacht, genau dort, wo sich der “Verführer der Jugend” vor 2500 Jahren durchaus herumgetrieben haben könnte, umgetrieben von der zentralen Frage der Philosophie: Wie sollen wir leben? Ein tapferer Kämpfer im Peloponnesischen Krieg, einer, der die anderen unter den Tisch trinken konnte, ein Philosoph, also ein Liebhaber der Wahrheit, Begründer einer eigenen Ethik: Nämlich der, dass es besser ist, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun, und der eher den Schierlingsbecher nahm, als seine Prinzipien zu verraten.

Am Ende waren sie 60 Millionen entfernt, wie dumm kann man sein

So steigt man im Anschluss hinab zur Plaka, die summt und singt und trinkt, hinab in die Niederungen, in denen sich Sokrates so gut auskannte. Und über allem der gleiche Mond.

Tsipras spricht vor Tausenden seiner Anhänger vor dem Parlament, die Gegner, ebenfalls zigtausende, sammeln sich im nahen Stadion. Tsipras spricht kurz. Er scheint zu wissen, dass er verloren hat. Egal wie das Referendum ausgeht, dieses letzte Manöver hat seine Stellung für Verhandlungen ganz sicher nicht verbessert.

Bevor er spricht, liefern sich ein paar Dutzend Anarchisten Gefechte mit der Polizei. Blendgranaten werden eingesetzt. Auf dem Dachrestaurant das ” New Hotel” am Südwestende des Platzes beobachtet ein Ziviler mit Knopf im Ohr das Geschehen. Erinnerungen an 2011 werden wach, als die Anarchos eine Bank im Südwesten des Syntagma-Platzes abfackelten und die angrenzenden Geschäfte und Theater gleich mit. Fest steht schon jetzt: Der Linkspopulist Tsipras und sein nicht sehr smarter Spieletheoretiker Varoufakis (wer zuerst blinzelt hat verloren) haben mit ihren Halbstarken politischen Zockereien das Land vorerst endgültig vor die Wand gefahren, haben es tiefer verschuldet und ein Pulverfass hinterlassen.

Am Ende waren sie nur 60 Millionen vom Vorschlag der Eurostaaten entfernt, wie dumm kann man nur sein, und vor allen: wie verantwortungslos. Und die unterschätzte deutsche Kanzlerin hat den Bluff der beiden auffliegen lassen. Sie hat gewartet, und nicht geblinzelt.

Erschienen am 05.07.15 www.welt.de