Seine Heimatstadt Meßkirch feiert den 125. Geburtstag Heideggers mit einem Seminar. Die politisch-korrekten Kritiker des Jahrhundertdenkers machen sich mit Boykott-Aufrufen lächerlich. Eine Reportage.

Wie feiert man in diesen ungeduldigen Tagen den Geburtstag eines großen Denkers, eines “Meisters aus Deutschland” (Safranski), vielleicht des letzten Philosophen, der diese Bezeichnung verdient hat?

Richtig, mit einem Boykott-Aufruf! Die Zeitschrift “Hohe Luft”, ein Periodikum ausgerechnet für Philosophie, tut es per Twitter auf 132 Zeichen unter dem Hashtag #schlussmitheidegger, hopp, hopp, wir haben schließlich nicht ewig Zeit. “125 Jahre Heidegger sind genug”, also kurzer Prozess, bewährter Appell an den Schwarm-Mob (wer hat nur das Nonsense-Wort von “Schwarmintelligenz” erfunden?). Also, wer auch der Meinung ist, dass der Heidegger jetzt ausgeheideggert hat, einfach Hashtag. Und was werfen wir Heidegger vor? Seit Veröffentlichung der “Schwarzen Hefte”, Heideggers Notizbüchern aus den Dreißigerjahren, sei evident, dass das “nationalsozialistische Gedankengut fest in der Philosophie des umstrittenen Denkers Martin Heidegger verankert sei”.

Nun weiß die Welt seit Jahrzehnten, dass Heidegger NSDAP-Mitglied war und zwar begeistert, er wollte sie übertreffen, träumte davon, den “Führer zu führen”, in einem Gutachten schrieb der NS-Wissenschaftler Erich Jaensch, Heidegger sei ein “gefährlicher Schizophrener”. Er träumte eine philosophische Neuschöpfung der Deutschen, einen Anfangs- und Epochenzauber. Es war ein überspannter Kurzschluss, dem auch Gottfried Benn und andere erlegen waren. Und wie Benn verstummte auch Heidegger bald. Die Volksgenossen waren dann doch primitivere Holzköpfe, als er vermutete, die wiederum hielten ihn für übergeschnappt.

War Thomas von Aquin denn liberal?

Zurück zu unseren Hashtag-Philosophen. Die Anklage fasst sich knapp, Heideggers Philosophie “ist anti-liberal, anti-demokratisch, anti-humanistisch, anti-rational”. Das ist erst mal eine ganz schöne Packung, und schon jetzt können wir uns ähnliche Kampagnen gegen Platon und Aristoteles vorstellen, die keine Einwände gegen Sklaverei vorbrachten, also Hashtag #Herrenmenschen, gegen Thomas von Aquin, nicht unbedingt liberal, und Hegel alles andere als ein lupenreiner Demokrat.

“Hohe Luft” demonstriert den mittlerweile ganz gewöhnlichen Ausschluss irritierender, auch fehlerhafter Gedanken und Biografien durch den politisch-korrekten Oberzensor, die Wächter der guten Gesinnung sind mal wieder unterwegs. Eine Art Glättung des Betriebs durch die alarmierte Masse, da müssen auch Tote noch einmal getötet werden.

Leider erfolgt der Aufruf zu spät, um andere Denker dem Einfluss Heideggers rechtzeitig entzogen zu haben, Zeitgenossen wie Hans-Georg Gadamer, Hannah Arendt oder Hans Jonas und Herbert Marcuse, oder Jean-Paul Sartre, und viele weitere Franzosen wie Michel Foucault und Jacques Derrida. Mit seinem frühen Geniestreich “Sein und Zeit” von 1927, der nach Jürgen Habermas das “bedeutendste philosophische Ereignis seit Hegels “Phänomenologie” darstellt, hatte sich Martin Heidegger als “heimlicher König” (Hannah Arendt) der deutschen Geisteswelt etabliert.

Kultfigur mit Kniebundhosen

Ja, selbst Habermas war von ihm entzündet, der Mann der Frankfurter Schule, deren Häuptling Adorno sich den Heidegger vor allem wegen dessen sprachlichen Manierismen (“Jargon der Eigentlichkeit”) vorknöpfte – und hier muss man sagen dürfen, ausgerechnet Adorno, der Meister des reflexiven Manierismus!

Aber dieser Typ mit den Kniebundhosen war tatsächlich Kult. Er wollte Heraklit überbieten. Ein antimoderner ehrgeiziger Katholik, der im Theologiestudium die Priesterweihen anzielte, seine Eltern dachten an mindestens Erzbischof, der dann mit der Kirche brach, um der Hohepriester der Philosophie zu werden, was ihm gelang.

Heute sind es vor allem die ostasiatischen Seminare, die von Heidegger gefesselt sind – seine auf 102 Bände geplante Werksausgabe wird ins Koreanische, Japanische und Chinesische übersetzt, also sollte der Hashtag schnellstens ins Koreanische übertragen werden, weil weitere Infektionen durch Heideggers Werk nicht ausgeschlossen sind.

Schlussmitheidegger? Nö, noch nicht, noch lange nicht, zumindest was die rund 300 Gäste angeht, die zur Feier des 125. Geburtstages in der Messkircher Stadthalle zusammenströmten. Hier lauschten sie den Grußworten des Bürgermeisters, der Heidegger-Herausgeber und -Forscher – Professor Alberto Rosales wurde aus Caracas eingeflogen – und stießen an mit Riesling, und vergnügten sich mit Schmalzbroten und Laugenbrezeln. Blumengebinde, Geschenke, herzerwärmende Kleinstädterei.

Dann gab es eine konzertante Aufführung des Films “Schwarzwald – Klangfarben und Lichtblicke”, Motti: Bodenständigkeit und Verwurzelung, der Schwarzwald als Schicksal, mal in Sommerpracht, mal als erfrorene Winterlandschaft, die Musiker kamen aus Freiburg und man konnte unter anderem auch einige Takte aus dem Mozartschen Klarinettenkonzert erhören.

Heideggers älteste Söhne waren erschienen, dazu eine erstaunlich große Heidegger-Familie, und dann, begrüßt mit einem Extra-Applaus, der neben Heidegger wohl größte Sohn des Schwarzwaldes: Georg Thoma, Goldmedaillengewinner 1960 in Squaw Valley.

Der Schorsch, gutdurchblutetes Wettergesicht, klein von Statur und silberhaarige 77 Jahre alt, Bundesverdienstkreuz im Knopfloch, eine Stimmungskanone. Nein, “Sein und Zeit” hat er nie gelesen, wer hat das schon, “aber bei mir kams au immr uff d’Zeit a”, und er lacht sich scheckig und die Stadtverordneten mit ihm. Heidegger hätte sich gut mit ihm verstanden, dem Schorsch. Was für ein hübsches badisches Residenzstädtchen dieses Messkirch, mit Fachwerk und Schloss und Kirchen, und überdimensionierten Aldi- und Lidl-Filialen, achso, Netto und Rewe ebenfalls raumgreifend, hier wird nie Hunger sein.

Ein Vortrag, ganz ohne Wortmagie

Am nächsten Tag dann, hier oben im Schloss mit seinem Ausblick über die Täler und Blumenwiesen und wogenden Felder, die roten Schindeldächer unter blauestem Himmel, das Seminar “Gelassenheit”, und der Anlass für diese Reise.

Gelassenheit, Freunde von “Hohe Luft”! Wenn etwas vonnöten ist in diesen hysterischen Krisen- oder Kriegszeiten, diesem ständigen Bürgerkrieg im Internet, dann ist es Gelassenheit. Martin Heidegger hielt seinen Messkirchnern diesen Vortrag 1955, und einige sind dabei, die damals dabei waren. Und es erweist sich, wie frisch dieser Vortrag wirkt, der ganz ohne Wortmagie und Verdunkelungen auskommt. Mit dieser Rede wollte Heidegger verstanden werden. Sorgfältig hatte er immer wieder an der Rede gearbeitet, faksimiliert liegen seine peniblen handschriftlichen Korrekturen vor.

Der zerzauste Alfred Denker aus Amsterdam, Heidegger-Gesamtwerk-Herausgeber, leitet die Runde gemeinsam mit Prof. Dr. Dr. Holger Zaborowski, vormals Washington, jetzt an der katholischen Hochschule PTHV Vallendar. Ein Geviert aus Tischen, rund 50 Teilnehmer, und jeder stellt sich vor. Eines ist früh klar: Hier wird unter Einsatz der eigenen Vita gelesen und geredet und gedacht, in einer Art hermeneutischer Selbsterfahrungsgruppe. Was ist da nur zusammengekommen an Alt und Jung, an Informatikern, Lehrern, Ingenieuren, Beamten, Handwerkern, zwei Studenten mit Bart, eine hübsche Argentinierin, eine russische Doktorandin. Und der alte Meister schafft es, alle einzubinden in seine Art des Philosophierens, die vornehmlich aus Fragen besteht, aus Befragungen des Seins. “Das Fragen”, schrieb er, “ist die Frömmigkeit des Denkens.”

Der Sohn erzählt vom Skifahren

Neben Zaborowski sitzt Jörg Heidegger, 95, der älteste Sohn, ein Gesicht aus Papier, das sich aufhellt, als er nach seinem Vater gefragt wird, ja, meistens schwieg er, beim Skifahren sind sie sich nah gewesen, Kristiana-Stemmschwung, auch den Telemark hat man versucht, die Enkelin Imke erzählt, dass er sich Zeit genommen hat, man hörte Musik zusammen, er konnte sich herrlich über Fussball ereifern, Beckenbauer war sein Held. Wie schön zu wissen, dass bei Heideggers nicht nur von den letzten Dingen geraunt wurde. Auch in der “Gelassenheit”-Rede geht es nicht darum. Sondern um das Hier und Jetzt, um die Wachsamkeit für den Moment im Bewusstsein seiner Herkunft und Zukunft, also seiner Geschichtlichkeit.

Er zitiert Johann Peter Hebel: “Wir sind Pflanzen, die – wir mögen’s uns gerne gestehen oder nicht – mit den Wurzeln aus der Erde steigen müssen, um im Äther blühen und Früchte tragen zu müssen.” Schließt sich eine Diskussion über Bodenständigkeit und die Entwurzelungserfahrung der Moderne an, schon 1955 gab es sie, Heidegger nimmt auf sie Bezug – und entwirft eine neue Form der Bodenständigkeit – eine, die im eigenen Sein gründet. Die Rede ist ein vollständig eingelöstes Beispiel für Gelassenheit. Sie ist nicht auf Effekte aus. Sie ist nicht nützlich, nicht brauchbar, kein Zehn-Punkte-Programm zur Lebenshilfe, sie lässt sich nicht auf den Begriff bringen (und damit einfrieren), sondern sie ist eine lockere Einladung zum Nachdenken. “Denn im Denken wird die Einsicht, in das was ist, freigegeben”.

Diese Freiheit, eine nahezu absichtslose, versucht den Gegenständen nicht den eigenen Stempel aufzudrücken, sondern sie zu betrachten – ein selten gewordener Aggregatzustand des philosophischen Denkens, das heute ständig irgendwelchen Zwecken zu dienen hat, meist ideologischen, also kriegerischen.

Eine Entspanntheit liegt in diesem Text, die an das Sokratische Lächeln erinnert. #Gelassenheit, liebe Freunde von “Hohe Luft”, denen zu wünschen wäre, dass sie, wie Heidegger es nennt, “ins Denken geraten”, statt Liquidationen wegen anti-rationaler und anti-demokratischer Vergehen vorzubereiten.

Um das “besinnliche Denken” soll es gehen. “Der heutige Mensch”, so Heidegger, “ist auf der Flucht vor dem Denken”. Sonnenflecken an den Wänden, dunkles, frisch geschnittenes Parkett, es ist schön, dieser Runde zuzuhören, in der nicht gestritten sondern gedacht und gesammelt wird. Hier werden Funde gemacht, mit einem Lächeln, und hinter den offenen Fenstern liegt ein sonniger Herbsttag – Erntewetter.

Die Flucht in die Zerstreuung, in künstliche Welten, heißt es in der Rede, mache aus uns allen “Heimatvertriebene”. Und 1955 kannte Heidegger noch nicht einmal das Internet, das gibt seine Enkelin Imke Heidegger zu bedenken, sondern nur Radio, Kino, Illustrierte. Und Imke, die Lehrerin ist, sagt: “Heute starren alle ständig auf ihre Handys, statt sich zu unterhalten”.

“Die verabreden sich auf Whatsapp, und wenn das ausfällt, zerfällt auch die Gruppe”, fügt Burkhardt Heidegger hinzu, der in Genf lebt, ja, die Enkelgeneration scheint den Alten posthum mit Munition versorgen zu wollen.

Heidegger und das “rechnende Denken”

Dabei bedenkt Heidegger auch das “rechnende Denken”, das der Welt der Technik angehört, mit ebenso großer Gelassenheit, aber er regt an, über dieses Denken nachzudenken. Die Fünfzigerjahre galten als die des Atomzeitalters. “Man erblickt in der Atomenergie ein riesenhaftes Geschäft”, heißt es in der Rede, und er zitiert einen Brief von Nobelpreisträgern: “Die Wissenschaft – d.h. hier die moderne Naturwissenschaft – ist ein Weg zu einem glücklicheren Leben des Menschen”. Wie schön, diesen pausbäckigen Optimismus in der Rückschau noch einmal vorgeführt zu bekommen und zu verstehen, dass nicht nur Heidegger sich in so manchem getäuscht hat. Und gleichzeitig zu notieren, wie er schon damals hartnäckig gefragt und das Denken eingefordert hat.

Draußen wiegt sich eine mächtig Linde, eine Weide lässt ihre beblätterten Schnüre in einer Brise wehen und hier geht man nach fünf Stunden durchaus beglückt auseinander. Jetzt nach draußen, auf den Feldweg, den dieser “Meister aus Deutschland” (und Celan-Verehrer!) oft gegangen ist, und den er als philosophisches Ereignis beschrieben hat.

“Die alten Linden des Schlossgartens schauen ihm über die Mauer nach”. Der Feldweg als Befreiung, die dem Denken Richtung gibt. “Wenn die Rätsel einander drängten und kein Ausweg sich bot, half der Feldweg”. So konkret, so naturnah, so gedankenvoll. Schwarzwälder Buddhismus. Womöglich, so Zaborowski, ist dieser kleine Vortrag über die “Gelassenheit” doch ein Kernstück des Heideggerschen Werkes, und lässt es neu erschließen. Das wäre doch eine Alternative zum Erschießen.

Ja, Hannah Arendt hatte wohl recht, als sie zum 80. Geburtstag sagte: “Er war der heimliche König im Reich das Denkens”. Es scheint so, dass er selbst zu seinem 125. Geburtstag noch – oder schon wieder – ein Geheimtipp ist.

Erschienen am 29.09.14 www.welt.de