Die Verschwörer von Weimar

In seinem neuen Buch „Goethe und Schiller“ beschreibt Rüdiger Safranski die einzigartige Freundschaft dieser ungleichen Männer – und ihr großes, gemeinsames Projekt, das immer noch auf seine Vollendung wartet: die ästhetische Erziehung des Menschen. Von Matthias Matussek
Die Allergrößten sind sie nicht mehr, hier auf dem Vorplatz vor dem Deutschen Nationaltheater in Weimar. Das betriebige Kaufhaus nebenan mit der modernen Glasschürze überragt sie maßlos. Doch wer vor den beiden stehenbleibt und zu ihnen aufschaut, hat Zeit, viel Zeit.
Sie wirken wie Verschwörer, Schulter an Schulter zwischen all den krempelschleppenden Menschen. Der eine, Goethe, hält den Dichter-Lorbeer, der andere, Schiller, der in diesem Jahr seinen 250. Geburtstag feiert, schwenkt eine Schriftrolle, die die Erklärung der Menschenrechte enthalten könnte.
Gemeinsam wirken sie wie eine Beschwörung, die tief in die Vergangenheit reicht und weit hinaus in die Zukunft. Sie hatten ein antikes Menschenideal im Sinn, und sie haben früh formuliert, was auf dem Weg in die Moderne verlorengehen wird.
Beide sind sie Schwellenfiguren. Schiller erahnte in seinen Briefen “Über die ästhetische Erziehung” die Zerrissenheit des Menschen in der neuen Zeit, in der jeder nur noch der Abdruck seiner Tätigkeit sei, während Goethe mit seinem “Faust” den rastlosen, von Erlebnishunger und Sensationen vorwärtsgepeitschten Menschen beschwor. Das Kaufhaus mit seinem Ameisengewimmel gibt beiden recht.
Beide sind auf ihre Art missverstanden worden von den Deutschen, zum Teil grotesk. Schiller als Dichter des bieder Bürgerlichen oder Dämonischen, Goethe als Repräsentant des deutschen Reichs. Nun ist die Zeit reif für eine Neubetrachtung.
Goethe und Schiller auf ihrem Podest, gleich groß, gleich klein. Das hat seinen Grund. Sie waren von dem Gefühl ihrer Freundschaft so sehr beseelt, dass keiner, wie Goethe später schrieb, “ohne den Andern leben konnte”.
Andere National-Literaturen haben ihre großen Einzelnen, die Engländer ihren Shakespeare, die Franzosen ihren Voltaire, die Russen Puschkin. Hier sind es zwei, die sich zu einem enormen Projekt zusammengeschlossen hatten: zur ästhetischen Erziehung der Nation, des großen Lümmels. Es gibt diese beiden, und sonst lange nichts.
Wie sie sich umkreisen und voreinander fliehen, sich beschimpfen und schließlich zusammenfinden, das ist nun zum ersten Mal für ein breites Publikum von Rüdiger Safranski umfassend beschrieben worden*.
Goethe als Genie der Intuition, Schiller als das der Reflexion, gemeinsam angetreten, um ein Ideal zu beschreiben, das leuchtet bis heute: die Versöhnung von Vernunft und Natur, von Pflicht und Neigung, von Stil und Persönlichkeit.
Es ist kein Erziehungsratgeber, kein Lebenshilfebuch für den Stapel neben der Ladenkasse, aber durchaus eines darüber, was wir mit unserer Freiheit anfangen. Sind wir nur verblödete Hedonismus-Maschinen, oder wollen wir mehr von uns?
Dass sie sich überhaupt zusammenfanden und wie sie es taten, ist eines der großen Rätsel, denn sie hätten nicht unterschiedlicher sein können: der ewig kränkelnde Schiller und die robuste Natur Goethe, der eine von Seelenfeuern und Tabak und vom Geruch fauler Äpfel vorwärtsgetrieben, der andere in sich ruhend, Geheimer Rat und Naturforscher und Dichter aus Neigung. Der eine kämpft, der andere wird gehätschelt.
Als Friedrich Schiller Goethe zum ersten Mal sieht, kniet er vor ihm. Kein guter Auftakt für einen neidfreien Umgang in der Zukunft. Es ist der 14. Dezember 1779, der württembergische Herzog Karl Eugen führt die Schüler der Karlsschule dem Weimarer Herzog Carl August vor, Johann Wolfgang Goethe steht an dessen Seite, würdevoll steif.
Die Schüler knien, um Karl Eugens Mantel zu küssen, und Schiller versucht einen verstohlenen Blick auf das Genie über ihm. Goethe ist ein berühmter Autor, Schiller ein Pennäler, der vom Ruhm vorerst nur träumen kann. Goethe hat bereits das Ritterschauspiel “Götz von Berlichingen” veröffentlicht und den empfindsamen “Werther”, einen europäischen Bestseller. Und Schiller – nichts.
Schiller kniet, er lugt nach schräg oben. August Wilhelm Iffland erinnerte sich: “Goethe hat einen Adlerblick, der nicht zu ertragen ist.” Wie kann man mit so einem ins Gespräch kommen?
Rüdiger Safranski, 64, ist eine singuläre Erscheinung im deutschen Buchmarkt. Er erzählt Geistesgeschichte und macht sie bestsellerfähig. Seine deutschsprachige Gesamtauflage liegt mittlerweile bei knapp einer Million. Er hat über E. T. A. Hoffmann geschrieben, über Schopenhauer, über Nietzsche und hat das Kunststück fertiggebracht, Heideggers Denken aus seinen Dunkelheiten zu heben.
Oft scheint Safranski in seinen Büchern einen hintergründigen Kommentar zum Zeitgeist zu liefern, etwa wenn er zum 68er-Revival über die Romantiker schreibt und die Kultur der Erregung in Deutschland. Bisweilen aber scheint der Zeitgeist sich Safranskis Stoffe zu wählen, um sich darin zu spiegeln – die Beschäftigung mit der deutschen Klassik fällt in eine Phase, in der die großen politischen Projekte zu Ende gedacht und ausgetauscht sind gegen anthropologische Meditationen über das, was wir können und was wir von der Kunst erwarten dürfen: Selbsterziehung.
Sicher ist ein Teil des vorliegenden Materials von ihm bereits zuvor ausgeleuchtet worden, besonders in seiner Schiller-Biografie. Doch nicht in diesen Perspektivwechseln, in dieser polaren Spannung. Wir sehen Goethe mit den Augen Schillers und Schiller mit den Augen Goethes. Und wir sehen erstaunlich viel Angst, Unbehagen, Widerwillen, dann erst Respekt und schließlich Liebe.
Goethe gehört zum Zeitpunkt seines Auftritts in der Karlsschule längst zum Establishment, die Kindereien des Sturm und Drang liegen hinter ihm, all diese Ausschweifungen in Begleitung des jungen Herzogs und im Gefolge der jungen Genies wie Lenz und Klinger, mit Gelagen, auf denen man Wein aus Graburnen becherte, rohes Pferdefleisch verspeiste, verrückt spielte, halbnackt an der herzoglichen Tafel erschien. Doch für die Nachrückenden war Goethe noch immer mit Skandal und Aufsässigkeit gegen die höfische Etikette verknüpft, ganz besonders für Schiller, der seinen eigenen Paukenschlag gegen die herrschenden Verhältnisse vorbereitete.
Schiller schickt seine wüsten “Räuber” auf die Bühne, die ihn von einem Tag auf den anderen berühmt machen, ein Ideendrama über zwei Extremisten der Freiheit, Karl und Franz Moor, zwei Outlaws, der eine ins Gute und der andere ins Böse.
Goethe widmet sich zu jener Zeit vor allem der Naturforschung – nicht der Exzess interessiert ihn, sondern das organische Wachsen.
Für ihn ist die Menschheitsgeschichte verwandt mit der der Pflanzen und der Tierwelt, er sammelt und sortiert. Als er mit dem Zwischenkieferknochen beim menschlichen Embryo das Bindeglied zwischen Affe und Mensch nachweist, jubelt er.
Goethe ist ganz auf Erdung aus, auf Kühlung der Temperamente, während Schiller in seinen Höhenflügen rote Wangen bekommt. Safranskis Verknappung der beiden Ansätze: “Der eine entdeckt den Zwischenkieferknochen, der andere die Freiheit.”
Eine grundlegende Frage: Woher kommt der Mensch, und was macht ihn aus? Goethe, der Naturforscher, feiert seine Knochenentdeckung, während Schiller, der Seelenschwärmer, den idealistischen Absprung sucht. Im Grunde haben die beiden damit den Frontverlauf vorweggenommen, der bis heute die Debatte belebt.
Ist der Mensch nur ein biologisches Programm oder eine autonome Setzung? Ist er frei oder ferngelenkt? Welche Rolle spielt die Kunst? Man würde Goethe heute eher ins Lager der Evolutionsbiologen rechnen, wenn sie nicht so vulgär wären, und Schiller ein bisschen näher an die, die an einen göttlichen Funken glauben, sei es die Begabung zur Liebe oder die zur Kunst.
Wenn Goethe seine “Iphigenie” dichtet, ist da nichts als hoher Kunstton und Menschenfreundlichkeit. Wie anders Schiller. Er richtet sich von vornherein an das Publikum, will es mitreißen, seine Seele aufwühlen. Das Publikum soll höchster Richter sein.
Für Goethe und Schiller kommt es nun zu Auf- und Ausbrüchen. Schiller flieht aus dem Machtbereich seines Herzogs, der seinen Wirkungskreis behindern will; Goethe gerät in eine Schaffenskrise und sucht buchstäblich das Weite: Italien. Alles dort ist Sinnenfest. Goethe zeichnet, stürzt sich in Amouren, schreibt erotische Elegien.
Schiller muss kämpfen. Am Mannheimer Theater lässt er sich für drei Stücke verpflichten. Sein “Fiesco” fällt durch, “Kabale und Liebe”, wiewohl erfolgreich, erlebt in Mannheim nur zwei Aufführungen, der Intendant lässt ihn fallen. Ein erster schwerer Malaria-Anfall hatte ihn zuvor schon aufs Lager geworfen.
Er hungert sich durch, verschuldet sich, wendet sich an Freunde und trifft schließlich anlässlich einer Lesung aus dem “Don Carlos” auf Herzog Carl August, der ihn auf seine Bitte hin zum Weimarischen Rat ernennt.
Als er endlich in Weimar eintrifft, ist Goethe noch in Italien. Alle warten auf ihn, auch Schiller. Man feiert Goethes Geburtstag in seiner Abwesenheit, eine “Sekte” hat sich da versammelt, wie Schiller sarkastisch notiert, durchaus zerstritten, aber alles kreist um den Geheimrat.
Nach seiner Rückkehr schließlich lernt Goethe die hübsche junge Bürgerliche Christiane Vulpius kennen und lieben. Schiller seinerseits heiratet 1790 die Adlige Charlotte von Lengefeld. Safranski: “Goethe bindet sich nach unten, Schiller nach oben.”
Die Annäherung zwischen Schiller und Goethe verläuft langsam und komplex, wie unterschiedlich ihre Lebensstile und Temperamente sind. Unmöglich, dass sich die beiden Diven je annehmen werden.
Während Goethe vom Herzog üppig ausgestattet wird, erhält Schiller für seine Professur in Jena kein festes Gehalt, selbst den Magistertitel soll er sich kaufen.
Ende der achtziger Jahre wohnt Schiller in Weimar, in diesem kleinen Städtchen mit gerade mal 6500 Einwohnern und höchstens ein paar Dutzend, die den Ton angeben, doch Goethe hält Distanz. Sie leben in der Nachbarschaft, aber sie leben nebeneinander her. Keine Besuche, keine einzige Einladung an Schiller.
Der nennt Goethe in seinen Briefen an Körner einen Egoisten. “Ich betrachte ihn wie eine stolze Prüde, der man ein Kind machen muß, um sie vor der Welt zu demütigen.”
Es wird noch dauern, bis die beiden sich nahekommen. Und in den Jahren, in denen sie sich weiterhin aus dem Weg gehen, reift in Schiller ein für ihn typischer Entschluss: Er wird Goethe lieben, als Verstandesakt.
Zunächst also kommt die Entscheidung des Kopfes, das Gefühl wird sich später einstellen. Er habe erfahren, schreibt er seinem Freund später, dass es “dem Vortrefflichen gegenüber keine Freiheit gibt als die Liebe”.
Es ist ein Sprung über Trennendes hinweg. Zur Französischen Revolution nehmen sie unterschiedlich Position. Schiller erkennt in ihr den geschichtlichen Moment. “Ein edles Verlangen muss in uns entglühen.” Schiller ist pathetisch.
Goethe ist misstrauischer, und der Terrorverlauf der Revolution gibt ihm recht. Doch noch aus einem anderen Grunde lehnt Goethe das Epochenereignis ab: Es begründet einen Mentalitätswandel, den Beginn einer dauerhaften Öffentlichkeit. Nun findet jeder Anlass zum Mitmachen und Mitmeinen, Nahes und Fernes verschwimmen, keiner ist er selbst und jeder wie der andere.
Ein professioneller Anlass bringt die beiden schließlich zusammen, ein Zeitschriftenprojekt. Das Zeitalter des Massenmarkts und der Rotationen kündigt sich an.
Der Verleger Cotta war an Schiller herangetreten mit der Idee zu einer Zeitung. Doch Schiller will es elitär. Von einer tagesaktuellen Zeitung will er nichts wissen, aber für ein Luxusjournal ist er zu haben. Die Humboldts sind eingeladen, Fichte, Herder, Kant, das Beste, was das Volk der Dichter und Denker aufbieten kann, und das ist damals einzigartig in der Welt.
“Unser Journal soll ein Epoche machendes Werk sein”, schreibt Schiller, “und alles, was Geschmack haben will, muß uns kaufen und lesen.” Jede Menge Tamtam also, vorzügliche Ausstattung, prächtiges Papier, “Vanity Fair” in Weimar, die Edelfedern der Nation, und natürlich darf einer nicht fehlen: der Geheimrat.
Schiller schmeichelt Goethe. Ohne “Hochwohlgeboren” sei das ganze Unternehmen nichts. Goethe antwortet in drei Stufen: Er ist für das Vertrauen dankbar, er nimmt mit Dank an, und schließlich: “Ich werde mit Freuden und von ganzem Herze von der Gesellschaft sein.” Ein langer Anlauf für diese Freundschaft, ein noch schwierigerer Anstieg. Doch schließlich ist das Plateau erreicht.
Goethe spürt: Da draußen hat sich was geändert. Sein Torquato Tasso hatte noch für den Ruhm und die Nachwelt geschrieben, jetzt gilt der Verkaufserfolg.
Zur Gründungsversammlung der “Horen” – so soll die Zeitschrift heißen – treffen sich die beiden mit Fichte und Wilhelm von Humboldt in Jena. Hier nun kommt es zu dem entscheidenden ersten Gespräch, zum ersten großen Funkenflug.
Nach einem gemeinsam besuchten Vortrag in der Naturforschenden Gesellschaft treten Goethe und Schiller auf den Vorplatz hinaus. Schiller kritisiert den Vortragenden, weil er die Natur seziert und zerstückelt habe. Goethe stimmt ihm zu. All diese Ausführungen müssten doch in Anschauung und Erfahrung wurzeln.
Es gehe auch anders, sagt Goethe, und während sie Schillers Haus erreichen, skizziert Goethe mit einigen Strichen die Metamorphose der Pflanzen. Als er geendet hat, schüttelt Schiller den Kopf: Das sei keine Erfahrung, sagt er, sondern eine Idee.
Goethe ist überrumpelt. Und läuft über. “Ich stutzte, verdrießlich einigermaßen: denn der Punkt der uns trennte, war dadurch aufs strengste bezeichnet … der alte Groll wollte sich regen, ich nahm mich aber zusammen und versetzte: das kann mir sehr lieb sein daß ich Ideen habe ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe …”
Und dann zieht der Ältere das Fazit: “Der erste Schritt war jedoch getan, Schillers Anziehungskraft war groß, er hielt alle fest, die sich ihm näherten.”
Jetzt erkennen beide, wie sehr sie sich ergänzen. Schiller schreibt Goethe am 23. August 1794 einen ausführlichen Geburtstagsbrief, der zum Gründungsdokument der Weimarer Klassik wird. Darin formuliert er die gemeinsamen ästhetischen Prinzipien. Goethe bedankt sich bewegt für das Schreiben, “in welchem Sie, mit freundschaftlicher Hand, die Summe meiner Existenz ziehen”.
Schließlich lädt Goethe Schiller in sein Haus am Frauenplan ein. Schiller warnt ihn. Es geht ihm gesundheitlich nicht gut, und er weiß, wie sehr Goethe zu Krankheit und Schwäche auf Abstand geht.
Doch Schiller wird mit Aufmerksamkeit umsorgt. Er erhält drei Frontzimmer, die nichtehelich verbundene Christiane Vulpius wird aus Schicklichkeitsgründen in hintere Quartiere verbannt – den ganzen Aufenthalt über wird Schiller sie kein einziges Mal zu Gesicht bekommen.
Goethe liest Schiller aus den noch unveröffentlichten “Römischen Elegien” vor und verspricht sie für die “Horen”. Schillers Sittlichkeit ist kompromissfähig, wenn es um große Kunst geht. Er findet die Verse “schlüpfrig und nicht sehr dezent”, meint aber, dass sie “zu den besten Sachen gehören, die er gemacht hat”.
Schiller wiederum will die Briefe “Über die ästhetische Erziehung” beisteuern. Zu sich selbst gelangen soll der Mensch mit den Mitteln der Kunst: “Er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.”
Ab und zu schauen die Herders vorbei, auch Wieland, aber ansonsten genügen sich die beiden. Sie diskutieren ganze Nächte hindurch. Sie machen Spaziergänge und besprechen gemeinsame Projekte, Schiller steckt in seinem “Wallenstein”, Goethe bittet ihn um Hilfe bei seinem “Wilhelm Meister”. Sie sind ausgesprochen unpolitisch in diesen Jahren. Die Weimarer Klassik ist eine ästhetische Koalition gegen den revolutionären Zeitgeist.
Die beiden haben sich endlich getroffen, sie arbeiten wie im Rausch, sie tauschen sich aus. Die “Horen” werden zwar nach drei Jahren eingestellt, aber sang- und klanglos will sich Schiller nicht verabschieden. Für die letzte Ausgabe bittet er Goethe um einen Text, der einen Skandal auslösen könnte. Am besten wäre eine Konfiszierung der Zeitschrift. So nah sind sie sich mittlerweile, dass sie sich als Komplizen verstehen.
In der Skizze “Über epische und dramatische Dichtung” spiegelt sich ihre Beschäftigung mit der Bühnenkunst. Das Theater soll ein besonderer Ort sein, eine Gegenwelt bilden. Es soll aus uns bessere Menschen machen, durch mitfühlende Anteilnahme. Was für ein maßloses Programm, wie viel maßloser als das, was heutige Theatermacher anbieten.
Im “Musen-Almanach für das Jahr 1797” veröffentlichen sie gemeinsame “Xenien”, in denen sie den Literaturbetrieb verspotten. Goethe und Schiller sind Zielscheibe der Kritik geworden, nun schleudern sie ihre Blitze zurück. Sie müssen eine Menge Spaß beim Verfassen der Verse gehabt haben, die wechselseitig auf Zuruf entstehen, man hört sie bis auf die Straße lachen.
Selten hat es eine Zusammenarbeit von Dichtern gegeben, die so weit ging. Sie bildeten eine Festung in diesen Jahren, immun gegen äußere Einflüsterungen – mochten die Hunde bellen, die Karawane zog weiter.
Schiller spürt, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt. Immer wieder spuckt er Blut. Fast fieberhaft stößt er nun Werk um Werk hervor, die “Wallenstein”-Trilogie, die “Maria Stuart”, “Die Jungfrau von Orleans”, “Die Braut von Messina”. Als letztes dramatisches Werk vollendet er den “Wilhelm Tell”, einen Stoff, den Goethe einst für sich entdeckt hatte. Ein letztes Freiheitsdrama.
Goethe freut sich über die Ehrungen für Schiller, die sich nun häufen. Er tut alles für ihn, und manchmal zu viel: Als der Puppenspieler Falk im Weimarer Rathaus eine Parodie auf Schillers Reiterlied aus “Wallensteins Lager” gedichtet hatte, wird er auf Goethes Drängen ausgewiesen. Sein Freund darf nicht verspottet werden.
Im Februar 1805 erkrankt Goethe schwer. Als Schiller davon hört, weint er. Kurz darauf wird er selbst von einem schweren Fieberanfall ins Bett geworfen. Als er sich wieder erholt hat, kauft er sich ein Pferd. Goethe hatte ihm geschrieben: “Übrigens geht es mir gut, solange ich täglich reite.”
Am 1. Mai treffen sich beide, kränkelnd, auf dem Weg ins Theater ein letztes Mal. Sie wechseln ein paar Worte. Am Abend des 9. Mai 1805 stirbt Schiller. Die Todesnachricht wird zum Frauenplan gebracht, doch keiner hat den Mut, sie Goethe zu hinterbringen. Er spürt die Unruhe. Christiane stellt sich schlafend.
Am Morgen fragt Goethe sie: “Nicht wahr, Schiller war gestern Abend sehr krank.” Die Betonung liegt auf “sehr”. Christiane beginnt zu schluchzen. “Er ist tot?” Als Christiane nickt, wiederholt er: “Er ist tot” und bedeckt seine Augen.
Der Beerdigung bleibt Goethe fern. Er kann den Tod nicht ertragen. Drei Wochen später schreibt er an Zelter: “Ich dachte mich selbst zu verlieren, und verliere nun einen Freund und in demselben die Hälfte meines Daseins.”
Das Goethe-Haus am Frauenplan überrascht in seiner Schlichtheit noch jeden Besucher. Antike Büsten, Gemälde, kleine Gemächer in Gelb und Grün und Blau, bescheidene Möbelstücke, Proportionen auf Menschenmaß, ein angenehmes Museum ist daraus geworden. Noch bescheidener die Räume in Schillers Haus.
Die Weimarer Klassik, sie fand im Kopf statt. Und sie blieb von langem Zauber. Viele pilgerten hierher, viele wohnten hier wie Franz Liszt oder Friedrich Nietzsche. Im Februar 1919 beschwor Friedrich Ebert hier die “Wandlung vom Imperialismus zum Idealismus, von der Weltmacht zur geistigen Größe”. Der “Geist von Weimar”, so der Wunsch, sollte die Parteien einen.
Eine vergebliche Hoffnung, wie wir wissen. Der Weimarer Geist wurde dementiert im nahen Konzentrationslager Buchenwald. Spricht das gegen Schillers “Ode an die Freude”, gegen Goethes “Iphigenie”?
Es lässt sich doch wohl im Gegenteil der Schluss ziehen, wie notwendig die beiden sind für die Deutschen und wie arm unsere Literatur wäre ohne sie, angefangen vom Weltmärchen “Faust” bis hin zum todesnahen “Über allen Gipfeln / Ist Ruh …”, so dicht und schön wie ein Haiku.
Wie dürftig unsere Bühnengeschichte ohne den verhängnisvoll verstrickten Wallenstein oder die Liebenden Ferdinand und Luise, die in den Tod gehen, weil sie an den Verhältnissen zerbrechen.
“Sie mögen mich nicht!”, sagte Goethe einmal über die Deutschen und setzte hinzu: “Ich mag sie auch nicht!”
Schiller wiederum hielt Krieg für “das einzige Verhältnis gegen das Publikum, das einen nicht reuen kann”. Was würde er heute sagen, wenn er sähe, wie der Krieg sich gegen seine Stücke richtet?
Nun stehen die beiden dort im Gegenwartslärm auf dem Weimarer Theaterplatz wie ein großer Vorwurf, der von denen verstanden wird, die stehenbleiben und sich Zeit nehmen und sich erinnern, dass da was war.