Wir sind Weltmeister: “Das Wunder von Bern” ereignet sich jetzt auch im deutschen Musical. Herberger kommandiert, Rahn schießt, Hamburg schluchzt. Auch unser Autor hatte am Ende einen Kloß im Hals.

Am Ende schimmern die Augen, und auch ich habe einen Kloß im Hals, verdammt, was ist das nur, hier im Stage-Theater im Hamburger Hafen, Räuspern, rührseliges Zeug. Aber schöööön.

“Deutsche Jungs dürfen auch mal weinen”, sagt der kleine Matthias Lubanski auf der Bühne im Schlussjubel, als sich alle in den Armen liegen, Deutschland ist Weltmeister in Bern, der Gefühlsstau hat sich gelöst, das schuldige und schweigende Deutschland, das sich mit zusammengebissenen Zähnen durch den Wiederaufbau rackert, es jubelt und weint. Natürlich darf man weinen, man muss es sogar, denn es gibt nichts Berührenderes als das: ein kleiner Junge und Fußball, viel Fußball, und ein Happy End. Na ja, vielleicht noch die eine oder andere Hochzeit. Aber auch die wird hier geliefert, als komisches Zwischenstück, im Musical “Das Wunder von Bern” im neuen Stage-Theater im Hamburger Hafen.

Nichts erzählt die junge Bundesrepublik schöner als dieser WM-Sieg in Bern, nur knapp zehn Jahre nach der von Deutschen verschuldeten Weltkatastrophe – nun kehrten sie zurück auf die Weltbühne und siegten mit friedlichen Mitteln, siegten als Außenseiter gegen die favorisierten Ungarn. Mit “Das Wunder von Bern” ist Sönke Wortmann saftiges, gut erzähltes Kino gelungen, und nun hat es der Stoff auf die Musicalbühne geschafft, und das hat ihm tatsächlich eine neue Dimension verliehen – nun ist unser erster WM-Titel ein Klassiker über Deutschland, den man tanzen und singen und feiern kann: Der Gründungsmythos.

Genial gestrickte Geschichte, ungemein theatertauglich. Wir sehen Jungs auf den Mauerresten vor einem schwefelroten Ruhrpott-Himmel, sie suchen den Horizont ab nach einer Brieftaube, und die bringt die wichtige Nachricht: Rot-Weiß Essen hat … schon wieder verloren. Alles drin: Trümmergrundstück, Wiederaufbau, die Taubenmanie der Nachkriegsjahre, die es wohl überall auf der Welt gab – man denke an “On the Waterfront” mit Marlon Brando. Ebenso der Hasentick, die Ruhrpotter züchten sie für den Weihnachtsbraten.

Riccardo, wie ein Weltstar, pures Gold

Der elfjährige Thies verehrt den Stürmer Helmut Rahn von Rot-Weiß Essen, er holt ihn rechtzeitig zum Training ab, er trägt ihm die Tasche, der “Boss” Rahn ist sein Ersatzvater, denn sein echter war schon wieder an der Front, als er geboren wurde. Der “Boss”, Ruhrpottheld. Aber er muss treffen. “So wird dat nie wat”, singen die Zaunspechte beim Training, singen sie in Christas Eck, wo der Fernseher nur dann ein Bild hergibt, wenn Christa die Antenne durch den Raum bewegt wie eine Wünschelrute. Mit dem Eck bringt Christa Lubanski (Verena Bolten) ihre Familie durch, sie ist eine dieser prächtigen Trümmerfrauen, die Deutschland wieder auf die Beine brachten.

Da ist Matthias der jüngste – an dieser Stelle: Wo haben sie diesen Riccardo gefunden, der so sicher auf der Bühne steht wie ein Weltstar, pures Gold. Da ist Bruno (David Jakobs), der ältere, der mit seiner Rockband für einige schöne Kellertanzszenen sorgt und ansonsten für die aufmüpfigen, kritischen Töne, denn in seiner Freizeit klebt Bruno, der Rocker, Plakate für die KPD – Bruno wird später in den “besseren” Teil Deutschlands umziehen, nach drüben, weil, wie er glaubt, dort jeder seine Meinung sagen darf. Dann wäre da noch die weißblonde Ingrid, die Mutter zur Hand geht und in ihrer Freizeit mit britischen Soldaten flirtet.

Wie das Endspiel in den Raum gebracht wird, ist schlicht atemberaubend

Sie haben sich eingerichtet in ihrem Leben, da kommt dieser Brief des Roten Kreuzes und kündigt die Rückkehr des Vaters an. Schöne kurze Momente der Ratlosigkeit, dann banges Warten am Bahnhof. Beeindruckend, wie die Bühnenbildner die dampfende Lok beschwören, die zischend zum Stillstand kommt. Versehrte, Abgemagerte, zerrissene Uniformen, da löst sich eine Gestalt ernst und bleich, und sie läuft auf die junge Ingrid zu, die so aussieht, wie er seine Frau Christa in Erinnerung behalten hat.

Das ist er also, sitzt schweigend und brütend herum. Seinen Job als Bergmann kann er nicht mehr ausfüllen – gespenstische Szene unter Tage mit dem “Steigerlied”, den Grubenlampen, dem Pressluftbohrer, der sich in einer traumatischen Szene in ein Maschinengewehr verwandelt. Ratlos legt er den Kleinen übers Knie für irgendwas. Und hämmert ihm ein: “Deutsche Jungens weinen nicht.” Während Thies’ Ersatzvater, “Boss” Rahn, tatsächlich zum WM-Kader für die Schweiz nominiert ist.

Eiffelturm, Tower, der Stierkampf in Madrid

Das Unternehmen Schweiz: Reporter Paul Ackermann muss seiner Verlobten erklären, dass es nichts mit diesen luxuriösen Flitterwochen wird, die sie sich anhand von Prospekten erträumt hat. Wunderbare Fünfzigerjahre-Nummer. Eiffelturm, Tower, der Stierkampf in Madrid – die junge Hamburgerin Elisabeth Hübert stürzt sich in diese Revuenummer mit allem komischen Talent, sie singt und tanzt und erinnert an den “Good Mornin'”-Klassiker mit Debbie Reynolds, sie kann scheinbar alles, mühelos. Und als die beiden schließlich in der Schweiz sind, hat sie sich eingearbeitet und gibt ihrem Mann für sein Herberger-Interview die fachlich interessanten Fragen ein.

Ja, Sepp Herberger und seine “Männer”, diese Mischung aus Kommiss-Stil und Kameradenromantik, dazu lauter wirksame Bühneneinfälle, etwa, wenn aus Koffern ein Bus gebaut wird und die Spieler ihre Kanons in die Schweizer Berge singen. Überhaupt, die Songs haben durchaus Ohrwurmqualität, und was die choreografischen Einfälle angeht: Das kann sich international sehen lassen.

Wie das Endspiel in den Raum gebracht wird, ist schlicht atemberaubend. Das Spielfeld mit den taktischen Kreidezeichnungen von Herberger wird an der Bühnenwand hochgeklappt. Davor hängen die Spieler an Seilen – ein Ballett von Flugartisten. Sie rasen hoch und runter und verpassen den Ball kein einziges Mal. Und dann der Moment des Jubels, die klassischen Szenen, Fritz Walter, der auf der Menge reitet, Sepp Herberger, der von seinen Spielern getragen wird. Und Thies, der von seinem mittlerweile geläuterten Vater tatsächlich rechtzeitig im Käfer über die Alpen nach Bern gebracht wurde, kann sagen: “Auch deutsche Jungens dürfen weinen.”

So muss ein Fußballfest ein

Auch Jannis’ Augen schimmern. Ich hab den 17-jährigen Torwart des ETV Hamburg dabei, aber auch die Dame links von mir tupft sich die Augen, und die macht sich nicht das Geringste aus Fußball, aber aus Musicals. Ich erzähle Jannis später von den entbehrungsreichen Wiederaufbaujahren, wie das war, damals, ich war ja dabei. “Boah, echt?”, na ja, rein technisch, ich war drei Monate alt, aber an die Petticoats jener Jahre habe ich die schönsten Erinnerungen – alle Kindermädchen trugen so was. Wir hatten ja sonst nichts, denn … “Is wahr?”, unterbricht mich Jannis, die Sache mit den Petticoats scheint ihn zu interessieren. Aber dann besprechen wir die Tricks, die die Fußballartisten des ungarische Dreamteams mit Puskás auf die Bühne brachten.

Alles dabei. Glück und Jubel, Lachen und Tränen, so muss ein Fußballfest ein. Oder ein gelungener Theaterabend. Und das Schönste: Wir sind schon wieder Weltmeister.

Erschienen am 24.11.14 www.welt.de