Pegida, Putin, Rot-Rot-Grün: Im Osten herrscht gerade ziemliches Chaos. Hilft vielleicht ein Besuch bei den Klassikern? Unser Reporter sieht in Dresden und Weimar nach dem Rechten.

Es ist ein merkwürdiges Geräusch in dieser Dresdner Nacht. Gemurmel. Und Schritte. Das Geräusch von Zigtausenden von Schritten. Ich treffe mich mit einem Dresdner Freund, aufgeschlossener Typ, Studium und Examina in New York, Vater von vier Kindern, CDU-Mitglied. Maximilian Krah. Irgendwann wird er im Bundestag sitzen, das hat er sich geschworen.

Anwalt. Ich bin wahrscheinlich der Einzige, der sich seinen zu dieser Demonstration gleich mitgebracht hat, das hier fühlt sich an wie eine Mutprobe. Denn die Pegida gilt als Bodensatz der Demokratie. Hier marschieren, schweigend, “Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes”.

Normalerweise heißt es ja “christliches Abendland”, aber wahrscheinlich dachten sich die Organisatoren, damit könnten sie den Bogen endgültig überspannen. Sie haben es schwer genug.

Natürlich Fahnen. Mit Rot-Schwarz-Rot ist der Dachverband der Burschenschaftler vertreten. Im 19. Jahrhundert wäre das noch ein subversives Statement gewesen, aber heute? Natürlich die Deutschlandfahnen. Einige Marschierer tragen schwarz-rot-goldene Lampions, wie man sie vom Martinszug kennt.

Journalisten haben hier keine Chance. Das kommt nicht von ungefähr. Wenn über Pegida berichtet wird, dann wie über eine tödliche Krankheit. Pegida ist der Ebola-Virus in der politischen Arena.

Auf einem Poster wird zum Boykott der GEZ aufgerufen. Das liegt an Günther Jauch. Mit seinem Talkshow-Tribunal über Pegida hat er sich mehrheitstauglich gezeigt, aber hier hat er verschissen. “Schade”, sagt Ralf, der das Poster hochhält, “ich hab mir die Ratesendung von dem immer gerne angeschaut, jetzt ekelt er mich an.”

Voran wird ein Transparent getragen, auf dem steht: “Gewaltfrei & vereint gegen die Glaubens- und Stellvertreterkriege auf deutschem Boden”. Tadellose Beschriftung, sozusagen der Beipackzettel der Demo, keine Nebenwirkungen. Das Problem ist, man glaubt dem Spruchband nicht. Wir sind im Umgang mit Pegida auf die Metaebene verwiesen, auf Recherchen im Netz, auf ideologische Querverbindungen, auf Vorstrafenregister der Polizei. Pegida-Anführer Lutz Bachmann zum Beispiel hat eine, aber die ist unpolitisch, hat eher mit Partys statt mit Parteien zu tun. Bleibt eigentlich nur noch die Benimmfrage – eine empörte “Stern”-Reporterin beschreibt, wie rüde sie abgewiesen wurde von den Demonstranten.

“Keine Glaubenskriege auf deutschem Boden”? Aber wir sind doch längst mittendrin. Zunächst ist da der Krieg der journalistischen Klasse, die sich einig ist, dass bei Pegida nur schlecht gekleidete Halbnazis mit dumpfen Parolen Zuflucht finden. Woher wissen die das?

Die Lippen sind verschlossen auf dieser Demo. Wir sind von der Ära der Wutbürger in die der Stummbürger eingetreten

Hier, in dieser Dresdner Nacht, hört man Schritte. Verschlossene Gesichter. Vielleicht, denke ich, laufen die immer so weiter, weit aus dieser Gesellschaft hinaus. Eigentlich komisch: Unter den neunzehn Forderungen der Pegida finden sich viele, die auch aus den Reihen der etablierten Parteien stammen könnten, zum Beispiel nach dezentralen Unterbringungen für die Flüchtlinge, da könnte man doch mal differenzieren.

Nee. Ausgerechnet in der “Frankfurter Allgemeinen” hat jetzt ein Redakteur zur Pauschalisierung aufgerufen. Im Kampf gegen Pegida ist jeder intellektuelle Regelverstoß erlaubt. Keine Differenzierung, ab sofort? Na ja, dann wäre wohl Straßenkampf der logische nächste Schritt. Feuilleton goes Punk und schlägt sich wacker auf die Seite der Guten.

Und die Bösen ziehen ihre Konsequenzen. Die Lippen sind verschlossen auf dieser Demo. Wir sind von der Ära der Wutbürger in die der Stummbürger eingetreten. Die seilen sich ab, die Leute, Staat wollen die nicht mehr machen.

Doch ganz zum Schluss zerreißt eine Parole die Dresdner Nacht. Eine bekannte, die wie ein Verzweiflungsschrei klingt: “Wir sind das Volk”. In diesem einzigen, bisher unbeanstandeten Satz findet die Wut ein Ventil.

Am nächsten Morgen beginnen die Nachrichten mit der Meldung, dass SPD-Justizminister Heiko Maas die islamkritische Pegida eine “Schande für Deutschland” nennt. Es wird ernste Gespräche in der Baracke darüber geben – nach neuesten Umfragen sympathisieren rund die Hälfte der Deutschen in Ost und West mit Pegida. Als zweite Meldung: die Morde eines Islamisten in einem Café in Australien. Doch auch diese Meldung wird am folgenden Tag übertroffen in ihrer Scheußlichkeit – die islamistischen Taliban haben eine Schule im pakistanischen Peshawar überfallen und 135 Kinder getötet. Als Vergeltung für irgendwas.

Eigentlich gibt es ziemlich viele Horrormeldungen über Islamisten. Fast täglich. Zwar versichern Politiker und Kirchenvertreter immer wieder, dass diese verstörenden Meldungen nichts mit dem Islam zu tun haben, aber das Volk, “der große Lümmel” (Heine), denkt sich das Seine. Es hat mittlerweile gelernt, dass es nicht opportun ist, darüber zu reden.

Im Kampf gegen rechts gibt es die erstaunlichsten Rollenspiele. Eine Aktivistin schrieb darüber, welchen Anfeindungen sie ausgesetzt sei, weil sie die AfD kritisiere. Sie fühle sich mittlerweile “wie in den Dreißigerjahren”. Das ist der Vorteil der Hysterie um Pegida, AfD und andere neurechte Bewegungen – sie versorgen noch den mittelmäßigsten Spießer nachträglich mit einer Widerstandsvita. Nach dem Motto: Diesmal verstecken wir die Juden im Keller. Hitler hätte heute keine Chance mehr.

Allerdings ist der Griff in die antifaschistische Requisitenkammer nur bedingt logisch, denn die Ironie besteht ja darin, dass der kriegerische Islam antisemitisch ist. Er will Israel auslöschen und die Juden gleich mit. Sodass diejenigen, die für eine islamische Willkommenskultur streiten, möglicherweise auch eingefleischte Judenhasser gleich mit umarmen. Und mögliche Bombenleger.

Das Morgenland der Weihnachstgeschichte

Das Abendland feiert sich in diesen Tagen mit Weihnachtsmärkten, gleich am Bahnhof gibt es einen. Gebrannte Mandeln, schwarz-gelbe Schals von Dynamo Dresden, in einer Bude gibt es grinsende Kaffeetassen. Am Waffelstand die Lehrlinge Sabine und Sandra, die natürlich gegen Rechts sind, aber jetzt wirklich noch Geschenke besorgen müssen.

Sagen wir so: Das mehr oder weniger christliche Abendland, in Glaubensdingen ermattet, feiert die Ankunft des Herrn mit Shoppinglisten. Aber warum nicht? In der Weihnachtsgeschichte nach Matthäus feiert das Morgenland mit, in Gestalt der drei Könige, die Geschenke für das Kind in der Krippe dabeihaben.

Damals ging das offenbar. Aber damals gab es auch den Islam noch nicht, der die Christen verachtet und, wenn es sein muss, auch tötet. Und es muss leider öfter einmal sein.

Wie gehen Morgenland und Abendland zusammen? Die überwiegende Mehrheit der Deutschen glaubt: gar nicht. Allerdings glaubt das auch jeder fünfte Muslim. Dass der Islam zu Deutschland gehört, fand eigentlich nur Kurzpräsident Wulff, doch er konnte immerhin Goethe als Kronzeugen verpflichten.

Im “West-östlichen Divan” diese Zeilen: “Wer sich selbst und Andre kennt, / Wird auch hier erkennen: / Orient und Occident / Sind nicht mehr zu trennen.”

Also auf nach Weimar, auf zu Goethe, dem Weltbürger, dem “Ausnahme-Deutschen”, wie ihn Nietzsche nannte. Allerdings mit Vorbehalt, denn gegen Ende und mit abnehmenden Buchverkäufen seufzte der Meister: “Die Deutschen mögen mich nicht. Ich mag sie auch nicht.”

Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen? Aber, verehrter Meister, der Orient hängt dem Okzident an der Gurgel wie lange nicht. Und 1,3 Milliarden Gläubige sind viele. Und ein paar darunter haben seeehr viel Geld, das Waffen kaufen kann.

Goethe mochte die persische Dichtung, mochte besonders die von Hafis, doch er vergaß in seinen Anmerkungen nicht, die Scharia-Prozesse zu erwähnen, denen sich der Dichter wegen seiner Frivolitäten beugen musste.

Dennoch, Goethe ist die verkörperte Menschenklugheit, es gibt Goethe-Maximen für jede Lebenslage. Schließlich hat er nicht nur die schönsten Liebesgedichte der deutschen Literatur geschrieben, nein, er betrieb praktische Politik als Mehrfach-Minister, er beaufsichtigte den Straßenbau, das Militär, die Schulen und natürlich das Theater.

Wie hätte Goethe, der den Begriff “Weltkultur” erfand, hier interveniert? Im Moment auf jeden Fall sind Orient und Okzident erheblich auseinander.

Im Weimarer Stadtschloss arbeitet der Chef der Goethe-Gesellschaft, Jochen Golz. Noch immer, obwohl er mit seinen 72 Jahren längst pensioniert ist, aber Goethe ist eine Lebensaufgabe.

Nicht nur in Dresden übrigens ist das Abendland in Gefahr, auch hier in Thüringen sahen es die Kommentatoren untergehen, weil ein Linker Ministerpräsident wurde. Golz hätte zwar gerne die Christdemokratin behalten, aber Weimar kriegt auch die Linke nicht kaputt.

Das Abendland. Hm. Kommt beim Meister erstaunlicherweise nur an drei Stellen vor, und dann ist es lediglich geografisch gemeint

Natürlich kriegt Golz die Weltlage mit. Natürlich tat es auch Goethe, der mit aller Welt korrespondierte. Er sei hier immer ein wenig isoliert vom Weltgeschehen, schrieb er an einen Freund in Frankreich, doch “das Meer höre ich auch hier rauschen”. Auch Golz hört das Meer. Auch er hat von Pegida gehört und von der Zeile “Gegen die Islamisierung des Abendlandes”.

Das Abendland. Hm. Kommt beim Meister erstaunlicherweise nur an drei Stellen vor, und dann ist es lediglich geografisch gemeint: Abendland ist Europa, geografisch. Goethe sprach von nordländisch, südländisch, abendländisch. Golz serviert Mineralwasser aus der Gegend. Ein freundlicher, blitzgescheiter Gelehrter, und natürlich kennt er jede Zeile Goethes. Nun zum Morgenland. Im großen Goethe-Wörterbuch gibt es keinen einzigen Beleg. An einer Stelle allerdings “morgenländisch”.

Ideologisches Gepäck tragen beide Wörter nicht in Goethes Kosmos. Wiewohl er dem Islam gegenüber Sympathien hegte, denn Abbildungen des Gekreuzigten stießen bei ihm auf ästhetische Widerstände. Mohammeds Leistung fasste er in die Zeile: “Nur durch den Begriff des Einen / Hat er alle Welt bezwungen.”

Na ja, nicht nur durch den Begriff, wende ich ein. Meistens waren doch Schwerter dabei. Und heute, das konnte der Olympier natürlich noch nicht wissen, allermodernstes Tötungszeug und terroristische Selbstmordkommandos.

Das saß. Goethes Stellvertreter auf Erden, Jochen Golz, gießt nach und weicht aus ins Allgemeine. Natürlich, sagt er, hätte Goethe jede Gewalt verurteilt. Zudem war er ganz prinzipiell gegen Unordnung, im Privaten und im Öffentlichen. Die Französische Revolution verachtete er aus diesem Grund. Hitzige Temperamente, die Hysterien des Tages – er beschäftigte sich dann doch lieber mit seinen Steinen, diesen beruhigenden Zeugen eines größeren erdgeschichtlichen Bogens.

“Faust II” und das “Kommunistische Manifest”

Zu DDR-Zeiten, erinnert sich Golz, diente Goethe als Propaganda. Das klassische Erbe. Im Osten waren nach dem Krieg eben die Humanisten und besseren Menschen zu Hause. Goethe, der Weltmeister der Dichtung, das soll uns der Westen erst mal nachmachen.

Walter Ulbricht bezeichnete “Faust II” als notwendige Lektüre auf dem Weg in den Kommunismus. Also das “Kommunistische Manifest” und “Faust II”, Letzteren wegen des Satzes “Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn, / Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn”, wobei Ulbricht an die Vereinigung der beiden Deutschlands unter der Führung der Arbeiterklasse dachte.

Zurück zum Islam. Goethe, so Golz, mochte die Religion als Leidenschaft nicht, brennende Gläubigkeit war ihm suspekt. Er, Golz, ist da offenbar ehrfürchtiger, spiritueller. Kürzlich, sagt er, sei Navid Kermani hier gewesen und habe über die Ähnlichkeit der muslimischen und der christlichen Mystik gesprochen. “Beeindruckend.”

Aber die Weimarer Klassik war doch ein großes Erziehungsprogramm. “Edel sei der Mensch, / Hilfreich und gut!” Da lächelt Golz fatalistisch. Er sagt: “Die Betonung liegt auf dem ,sei’.”

Für Goethe, den Islamversteher, war das Theater ein Mittel zur “sittlichen Erziehung”. Die Maxime hat Schule gemacht und sich lange nicht davon erholt, dass Dramaturgen und Regisseure das Volk erziehen wollten. Auf zum Weimarer Theater. Der Kurfürst hatte es dem Dichter einst errichten lassen, Goethe inszenierte und trat auch selber auf. Er hielt sich trotz seines hessischen Akzents für begnadet. Zum Theater heißt: durch den Weihnachtsrummel, langsam, denn hier suchen alle noch nach dem perfekten Christbaumschmuck. Für die Geschenke kämen die Kaufhäuser infrage, Schiller heißt eins, das andere Goethe. Schiller soll besser sein.

Vor dem Deutschen Nationaltheater ist ein Eisring aufgebaut. Die beiden Klassiker in ihrer Bronze-Erhabenheit stehen hoch darüber und passen auf, dass keinem der flitzenden Kinder was passiert. Nee, doch nicht: Die Dioskuren schauen in die Ferne, in die Zukunft, leicht entrückt in ihrem Lorbeer.

Die wunderbare Pressereferentin Susann Leine gibt Auskunft über einem Latte Macchiato. Auf den Nenner gebracht: Weimar ist gerüstet gegen die braune Pest. “Natürlich spielen wir ,Faust’, das klassische Repertoire, aber auch politische Aufklärungsstücke.” Sie haben Glück in Weimar. Am Ort ist das “Bündnis gegen rechts” stark verankert, sehr engagiert, und das Theater hilft. Für die Jugend hat die Schriftstellerin Karin Köhler das Stück “Deine Helden, deine Träume” entwickelt, mit Weimarer Schülern, großer Erfolg.

Eine Kantine wie jede. Schmucklos, helle Holzstühle, runde Tische, zerschrammte Tische, auf denen jetzt allerdings bedruckte rote Papierservietten mit Nikoläusen und kleine Tannenzweige den Versuch unternehmen, auf den Heiligen Abend einzustimmen. Schließlich stößt die Chefdramaturgin Beate Seidel dazu, erschöpft, sie proben den “Wallenstein”. Oha. Ein Brocken. Ein spannender dazu, derzeit, denn im Stück geht es auch um die Neuordnung Europas. Putin als intriganter Piccolomini, die Krim-Frage noch mal kritisch?

Beate Seidel macht nicht den Eindruck, als hätte sie auf plakative Bezüge Lust. “Die stellen sich im Kopf der Zuschauer her.” Kann denn aus dem Theater auf die Zivilgesellschaft Einfluss genommen werden? Eine Art Korrektur erfolgen? “Als fromme Idee, vielleicht.”

Zu guter Letzt noch einmal ins Haus am Frauenplan. Fast sein ganzes Leben verbrachte Goethe hier. Das Treppenhaus hat er selber anlegen lassen, mit diesen wunderbaren Stufenabständen, die er in Italien kennengelernt hatte. Wo das Hinaufsteigen “wie ein Schreiten” möglich ist. Ach, all die weißmarmornen Gipsbüsten, die edlen Köpfe, die Erinnerungen an die klassischen Schönheitsmaße. Apoll.

Und die verschiedenfarbigen Arbeits- und Empfangsräume oben. Gelb. Rosé. Grün. Farbtherapie. Es ist kurz vor Feierabend, ich bin der letzte Besucher, Still ist es in den Räumen, friedlich, harmonisch. Und auf dem Arbeitstisch das Kissen, auf dem er seine Stirn bettete, wenn er ein Nickerchen brauchte.

Von hier aus sind die Stummbürger von Dresden und die wortreichen Politiker in Berlin ganz weit weg.

Über allen Gipfeln ist Ruh.

Erschienen am 22.12.14 www.welt.de