Seine Familie hat Geld, er selber nicht. Er stromert und er säuft, um sich umzubringen. Er lädt Penner ein. Ein Topf Suppe steht immer bereit. Paul Badde erzählt in dem Dokumentar-Roman “Raphaël” von einer merkwürdigen Lichtgestalt im München der Nachkriegsjahre.

Was für eine wundersame Heiligenlegende. Was für ein beschwingtes und tief melancholisches Buch. “Raphaël” von Paul Badde handelt vonVölkermord und Auferstehung, von unserem kulturellen und religiösen Gedächtnis, und tja: einem Engel.

Er war ein Skandal, damals in den Nachkriegsjahren in München, sicher peinlich für manche in seiner freundlichen Unbeirrtheit, doch auch herzerwärmend für enge Freunde und inspirierend für viele, die er berührt hat. Raphaël hat er sich genannt, dieser Walther Kahn, der als Viertel-Jude mit seiner Familie knapp der Gaskammer entronnen ist und später zum katholischen Glauben konvertierte.

Sein alter Vater eine Rabbiner-Figur, die Mutter jung und stark. Sie musizierten während der Bombenangriffe, da ihnen der Zugang zu Luftschutzkellern verwehrt wurde. Und sie kamen tatsächlich äußerlich unversehrt durch die dunklen Jahre.

Walther war der jüngere. Nach seiner Konversion nannte er sich Raphaël, wie der Erzengel, der Bote zwischen dem Allerhöchsten und den Menschen, der himmlische Begleiter schlechthin, der Wächter am Baum des Lebens im Garten Eden, der Kabbala nach der lustigste der Engel.

“Ich sah den Engel”

Tatsächlich als Engel hat ihn der Schriftsteller Ernst Herhaus in seinem autobiografischen Roman “Kapitulation” erlebt. Er erblickt ihn auf dem Balkon im ersten Stock eines Münchner Patrizierhauses: “Ich betrachtete den Unbekannten und wusste, ich sah den Engel. Die Schönheit in seinem Antlitz zeigte mir die Tatsachen der Anmut, der Krankheit, der Liebe.”

Paul Badde, Mitherausgeber des “Vatikan”-Magazins, bis vor kurzem Korrespondent der “Welt” in Rom und davor in Jerusalem, stieß auf diesen Raphaël durch einige hektografierte Mitteilungen aus einem obskuren Kreis von Katholiken, die sich in den Nachkriegsjahren in München formiert hatten und lange vor dem Zweiten Vatikanum mit Volksaltar und anderen Reformen experimentierten.

Badde beginnt Anfang der neunziger Jahre zu recherchieren, nach einem Tipp eines Lehrerkollegen. Ja, Badde, arbeitete auch als Lehrer und nebenher für “Pardon”, bevor er zur “Welt” stieß.

Raphaëls Geschichte ließ ihn nie los, und er erzählt auch, wie er erst durch die Fernsehserie “Holocaust” – wie viele seiner Generation – mit dem Verbrechen an den Juden konfrontiert wurde. Und die Suche nach Walther Kahn, also Raphaël, ist Teil einer Bewusstwerdung über die Wurzeln des Christentums, die im Judentum liegen.

Er findet Wegbegleiter Walther Kahns, der bereits Ende der fünfziger Jahre verstarb, mit knapp 30. Befragt dessen Bruder, dessen Ehefrau, seine Freunde, auch den Guru des damaligen Kreises, Magnus genannt.

Exzentriker in Seide

Aus diesen Erinnerungen setzt sich Raphaël zusammen. Er muss blitzgescheit gewesen sein, unendlich belesen, ein Exzentriker in seinem schwarzen Seidenanzug, mit dem er bisweilen wie ein schwarzer Vogel über den Stachus tobte. Buchstäblich hineinfuhr in die bereits vergessende Nachkriegsgesellschaft.

Anziehend, schön, auf merkwürdige Weise geschlechtslos. Manchmal schminkte er sich die Lippen rot. Er zitierte Karl Kraus so geläufig wie Martin Buber.

Ja, er hat ein Faible für talmudischen Witz und Weisheit. Und Sinn für den Skandal, dass Jesus Jude war, dass sich Gott ausgerechnet das jüdische Volk gewählt hat, um sich zu offenbaren, nicht die Griechen der Stoa, nicht die buddhistischen Klöster, sondern die Juden, die von den Deutschen fast vernichtet wurden.

Das ist der Skandal nach dem Krieg, und Raphaël spricht darüber und legt sich mit den satten katholischen Vereinsmeiern genauso an wie mit allen, die nicht nach der jesuanischen Maxime der Armut und der Selbstlosigkeit leben: “Was ihr den geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan”. Er glüht. Wie kann man nur an den Ärmsten, den Ausgegrenzten, den Verlorenen vorübergehen, wenn man Jesus ernst nimmt, so ernst wie er.

Er lebt die Bergpredigt. Seine Familie hat Geld, er selber nicht. Er stromert und trinkt. Er trinkt, um sich umzubringen. Sein geräumiges Parterre-Zimmer staffiert er mit Pritschen. Er lädt Penner ein. Ein Topf Suppe steht immer bereit.

Eine peinliche Figur

In diesem großen Zimmer lebt er in einem Zelt, in dem ihn niemand stören darf. Er ist ein Ekstatiker. Als er den Priester Magnus auf der Straße erblickt, kniet er vor ihm. Vor dem Kreuz bricht er zusammen. Und er trinkt. Er ist eine peinliche Figur.

Die Erinnerungen seines Bruders, eines erfolgreichen Psychologen, sind vorsichtig, als ob er sich noch nachträglich distanzieren müsse. Die seiner Ehefrau für die letzten vier Jahre warmherzig und verwundert. Die des Magnus kopfschüttelnd. In allen hat er diese merkwürdig glühende Spur hinterlassen.

Seine Frau versucht ihn zu retten, sie liebt ihn, seine Mutter dagegen sieht in fast überwirklicher Gelassenheit und anteilnehmendem Schmerz seinem unaufhaltsamen Niedergang zu.

Raphaël erlischt mit einem knappen Hinweis auf seine Beerdigung in der Lokalpresse.

Doch er bleibt in diesem Dokumentar-Roman, als eine Figur, die ein Leuchten umgibt wie Andreas Kartak, den Obdachlosen, in Joseph Roths letzten und an Wundern vollsten Roman “Die Legende vom heiligen Trinker”. Selten löste sich ein Reporterbuch so vollständig in Poesie auf – in die Möglichkeit, einem Engel zu begegnen.

Erschienen am 31.08.2013 www.spiegel.de