Vor 200 Jahren veröffentlichten die Brüder Grimm erstmals ihre Märchensammlung. Sie wurde das erfolgreichste Buch deutscher Sprache. Eine Erkundungsfahrt in unsere dunkle Seele.

Stellen wir uns vor, nur eine anarchistische Sekunde lang, dass sich Carmen Nebel verblättert in einer der großen Weihnachtsgalas dieser Tage. Vielleicht ist ja eine böse Fee im Spiel.

Dass sie also vor den erwartungsvollen Kleinen im Lichterglanz unterm Studio-Tannenbaum aus ihrem goldenen Märchenbuch – ja, nicht das “Schneewittchen” vorliest, sondern das hier, das viel kürzere, das Märchen vom “Eigensinnigen Kind”.

Das eigensinnige Kind, läse Nebel lächelnd, war so störrisch, dass es der liebe Gott krank werden und sterben ließ. Doch selbst aus dem Grab noch streckte es sein kleines Ärmchen heraus, immer wieder, sooft man es auch zurückstopfte. Da kam die Mutter ans Grab und haute mit einer Rute auf das Ärmchen.

Und da, so endet Frau Nebel sanft, “zog es sich hinein, und das Kind hatte nun erst Ruhe unter der Erde”. Und sie klappt das goldene Buch zu.

Temperatursturz in der Halle. Die Kinder fangen an zu weinen. Der Intendant ruft noch während der Sendung an. Die “Bild”-Zeitung fragt anderntags: “Nebel noch tragbar?” Natürlich hagelt es Proteste von den Pädagogen- und Frauen- und fortschrittlichen Kirchenverbänden, und Frau Nebel würde die Sache dadurch verschlimmern, dass sie sagt: “Wieso, das ist doch auch von Grimm.”

Nun regen sich erst recht alle auf, weil sie spüren, dass das Märchen von schwarzer Pädagogik erzählt und, schlimmer noch, von ewiger Schuld und Verdammnis, wie in einer Parabel Kafkas, als wäre eine Falltür ins Nichts aufgestoßen.

Ganz schnell wieder vergessen!

Nicht, dass nicht auch das “Rotkäppchen” schwarze Momente enthielte (gefressen werden durch den Wolf) oder “Hänsel und Gretel” (ausgesetzt im Wald), aber diese lösen sich, nach Beklemmung und Prüfung und Angst, in einem Happy End auf, in diesem ewigen “Da hatten alle Sorgen ein Ende, und sie lebten in lauter Freude zusammen”.

Wie wir sie lieben, die Märchen und ihren Ton, und wie oft haben wir sie unseren Kindern vorgelesen, denn sie belohnen die Guten, bestrafen die Bösen, darin liegt ihre unverschämte Utopie.

Prunksucht wird verabscheut, Bescheidenheit gelobt, Fleiß gerühmt, Tapferkeit geadelt, ein christlicher Tugendkatalog. Und ja, es gibt eine himmlische Gerechtigkeit: Da ist das Sterntalermädchen, das noch sein letztes Hemd hergibt und plötzlich von oben beschenkt wird mit einem goldenen Regen aus Talern.

Doch die Irritationen bleiben.

Märchen sind “Meteoriten in der Landschaft der Literatur”, wie sie Michael Maar in einer Monografie “Hexengewisper” beschreibt, rätselhaft, uralt, Schöpfungsmythen spielen da hinein und sehr oft Erinnerungen an Schlachten, an die Gräuel aus dem Dreißigjährigen Krieg, an Aberglauben und Hexenverbrennung.

Am Schluss von “Wenn Kinder Schlachtens mit einander gespielt haben” liegen alle tot herum in einer stumpfen Familientragödie wie in einer trockenen Polizeimeldung. In “Von dem Machandelbaum” serviert die Stiefmutter den ungeliebten Sohn dem Vater als Ragout.

Wir können uns die Brüder Grimm als Seelenärzte vorstellen, die sich über ihre Deutschen beugten in der Dämmerstunde, um ihnen ihre Urerzählungen abzulauschen, die Heldendramen, Angstträume, die Schauer aus Prüfungen und Fieber, und natürlich ihre Hoffnungen. Lauschen, was allen gemeinsam ist.

Sie waren Forscher. Sie wollten dem Deutschen auf den Grund. Ihre Arbeiten zur Grammatik, zur Mythologie, vor allem ihr monumentales Wörterbuch schufen Grundlagen für das Fach “Germanistik”. Dass aber ausgerechnet aus den Märchen des Volkes, aus Spuk und Zauber und Erlösungswünschen, die Fundamente der Nation gebaut werden sollten, ist doch die schönste romantische Pointe.

Überall in Europa war damals, im 19. Jahrhundert, das nationale Fieber ausgebrochen. Befreiungskriege, Freiheitskämpfe, Menschenrechte – Kapital und Bürgertum drängten in eine nachfeudale Welt. Doch in Deutschland war der Wunsch nach nationaler Einheit, der ein linker Wunsch war, nur ein Traum.

In Deutschland, das nur ein märchenhafter Flickenteppich aus Königreichen, aus kleinen und kleinsten Fürsten- und Herzogtümern war, musste die Einheit der Nation über die gemeinsame Sprache, die Poesie hergestellt werden.

Daher der romantische Silberblick aus Revolte und Reaktion. An der Schwelle zur neuen Zeit schauten die Romantiker zurück. Bevor das Zeitalter der Industrien und der Wissenschaften übernahm, sollte noch einmal gezaubert werden. Die goldene Horde aus Jena (Schlegel, Novalis) und Heidelberg (Brentano, von Arnim) – und mittendrin die spröden Grimms -, sie alle riefen: Zum Teufel mit der Wirklichkeit, her mit den Sagen.

Gut für die Poesie, schlecht für die Politik. Woanders bluteten Freiheitskämpfer, die deutschen Dichter und Denker hingegen eroberten das “Luftreich des Traums”, wie Heinrich Heine schrieb.

Und die Romantik, diese “deutsche Affäre” (Rüdiger Safranski), dieser Strom aus Experiment und Wahnsinn, aus Poesie und Volkstümlichkeit, aus ironischem Spott und Schwärmerei, ging in Wellenbewegungen durch die Zeiten.

Der Strom ergriff Heine und Wagner, Marx und Thomas Mann und galvanisierte die 68er in Paris, Berlin und San Francisco und machte Karriere, denn, so Ernst Bloch: “Der Marxismus, in allen seinen Analysen der kälteste Detektiv, nimmt aber das Märchen ernst, den Traum vom Goldenen Zeitalter praktisch.”

Grimms Märchen und die deutsche Romantik, darauf hat sich die Welt geeinigt, sind das Deutsche schlechthin: so utopisch und sentimental, so romantisch, so zerklüftet, so mondscheinselig.

Was die Grimms beseelte, war ihr “Glaube an die Heiligkeit und Wahrheit der Kindermärchen”, und sie fanden, nur “wenig andere können so reich an frischen, ewig jungen Tatsachen sein”. Mit “Tatsachen” meinten sie Urerinnerungen und unauflösbare Schrecken, poetische Wahrheiten und verkapselte Träume.

Heute, 200 Jahre später, in einer Zeit also, in der die Nationen wieder verblassen zu puren Wirtschaftszonen und Absatzmärkten, scheint das “deutsche Gefühl” einen friedlichen und bunten Siegeszug des Eskapismus angetreten zu haben.

Aber ausgerechnet bei uns Deutschen überwintert das Wort “Märchen” allenfalls in Leitartikeln, wenn die Opposition die Regierung wieder einmal der Lügen bezichtigt. Wir scheinen immun geworden zu sein gegen den Schrecken, das Heilige, das Verrückte. Haben wir aus der bösen irrationalen deutschen Geschichte so gut gelernt, dass wir auch die Träume trockengelegt haben?

Die Brüder Grimm werden in eine fiebernde Zeit hineingeboren, als Kinder eines wohlhabenden Amtmannes in Hanau (Jacob 1785, Wilhelm 1786). Revolutionszeit in Frankreich, Hegel und Hölderlin tanzen in Tübingen um den Freiheitsbaum.

Ihr Vater stirbt plötzlich, sie werden, verarmt, zur Tante nach Kassel gegeben, wo sie die Gymnasialzeit im Schnellgang durchlaufen. Während ihrer Marburger Studentenjahre steigt der Stern Napoleons. Europa hat einen neuen Dämon.

Im Jahre 1806, als Napoleon in Jena und Auerstedt die alte Ordnung zerschlägt, beginnen die Brüder, Märchen zu sammeln. Die Parole: Sichern, was noch zu sichern ist an mündlicher Überlieferung.

Die Grimms, was für ein Tandem. Aus Paris schreibt Jacob an Wilhelm: “Wir wollen uns einmal nie trennen.” Und so werden sie es halten, ein Leben lang. Ihr Bruder Ludwig Emil hat sie oft gezeichnet. Jacob aufrecht, mit hoher Stirn, wie im Sturm, der kränkliche Wilhelm daneben, den Blick verträumt in eine Welt des Zaubers gerichtet.

Ob in Kassel oder in Göttingen oder später in Berlin, sie arbeiten Tür an Tür. Als ihnen der Junggesellenhaushalt über den Kopf wächst, beschließen sie zu heiraten. Eine Frau muss ins Haus. Die Wahl fällt auf Dorothea “Dortchen” Wild, die Apothekerstochter, die ihnen Märchen lieferte. Wilhelm wird sie heiraten, fortan leben sie zu dritt, mit einer wachsenden Schar von Kindern.

Gleichzeitig wachsen die Zettelkästen, sie sind Bücherwürmer, Forscher in den Labyrinthen der Sprachen, von denen sie viele meisterhaft beherrschen. Dänische Heldensagen, serbische Grammatiken, germanische Lautverschiebungen, Sanskrit, sie interessieren sich für alles. Sie sind Europäer und sehr deutsch.

Für Barrikadenstürmerei haben sie nichts übrig und werden doch zu ersten Demokraten. Als sie gegen den König von Hannover protestieren, wird Jacob des Landes verwiesen. 1848 wird er als Abgeordneter des ersten frei gewählten deutschen Parlaments in die Paulskirche einziehen.

Doch nun, 1806, nehmen sie den Zuruf auf und sammeln Märchen. Diese gelten als Urstoff der Deutschen, dabei waren sie bei ihnen lediglich gut aufgehoben. Die Deutschen waren der Korridor Europas, sie nahmen alles auf, ob es aus Vorzeiten stammte oder aus dem Orient, vieles war aus Frankreich und Italien zugetragen, doch es waren die Grimms, die ihnen den deutschen Klang gaben, den romantischen Klang, und der ging so:

“In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön, aber die jüngste war so schön, dass die Sonne selber, die schon so vieles gesehen hat, sich verwunderte, sooft sie ihr ins Gesicht schien.”

Wilhelm, der Poesienähere von beiden, hatte hier, im Märchen vom “Froschkönig”, Hand angelegt. Der Ton macht die Musik, und es war dieser Ton, der die Märchen zum Welterfolg machte.

Sie lassen sich helfen von den Töchtern des Apothekers Wild in Kassel, von der Marktfrau Dorothea Viehmann, vom Dragonerwachtmeister Krause. Sie plakatieren, sie bezahlen für Märchen, für den Klatsch und die Schnurren unter Spinnerinnen und Wäscherinnen.

Sechs Jahre sammeln sie, bis die Märchen 1812 – Napoleon hatte sich gerade aus dem brennenden Moskau zurückgezogen – erscheinen.

Wie leben wir heute mit den Grimms, in Zeiten von iPad, Euro-Krise und Autobahnbrücken für Frösche, die womöglich alle verwunschene Prinzen sind?

Hinein in den finsteren Reinhardswald nördlich von Kassel, in dem sich Hänsel und Gretel verirrt haben könnten. Finstere Baumriesen unter einem fahlen Mond.

Auf einer Anhöhe ragt das Dornröschenschloss Sababurg in den Sternenhimmel, 14. Jahrhundert, später als Jagdschloss genutzt, dann abgedeckt zur Ruine, heute Hotel. Romantisch die runden Türme, der Mond scheint in den Burghof, ein gepflasterter Weg, die rot-weißen Fensterläden unterm Weinlaub bereits geschlossen, doch der Wirt ist noch auf.

Er heißt Günther Koseck, trägt einen Trachtenjanker, Stirnglatze und spärliche Stoppeln, nicht unbedingt ein Prinz, im Gegenteil, man sieht ihm geradezu an, dass er Systemtheorie in Bielefeld studiert hat. Nun schmeißt er das System “Märchen”.

Nach dem kargen Mahl, die Küche ist zu, führt er mit Taschenlampe hinüber zum Turm, die Wendeltreppe hinauf, dann die Dornröschen-Suite mit Baldachinbett, in den LED-Strahler eingesetzt sind wie Sterne. Die Badewanne trägt ein königliches Wappen. Auf dem Bett ein Dornröschen-Erfrischungstuch mit dem Aufdruck “Gute Nacht”.

Hm. Hundert Jahre Schlaf. Nicht schlecht nach dieser Autobahnfahrt durch eine mythenlose deutsche Gegenwart, in der das Romantischste wohl das blaue Aral-Schild war, das in der Dämmerung gegen eine dickrote Sonne leuchtete.

Hundert Jahre Schlaf. Aber bitte nicht vorher wecken. Besonders nicht durch einen Kuss – wer weiß, wie ernst der beflissene Luhmann-Fan Koseck sein Dornröschen-System nimmt.

Am nächsten Vormittag führt Koseck durch seine blanke Grimm-Welt. Überall stilisierte Märchenmotive aus Stahlblech. Froschkönig, die Bremer Stadtmusikanten, Frau Holle, Dornröschen, Aschenputtel, die Spindel mit Spinnerin – ein eher allgemeines Märchenschloss, genauer: ein vielseitig bespielbares “Genießer- und Erlebnis-Schloss”.

Vor allem aber Hochzeitsschloss mit Standesamt, und hoch oben, hinter der Burgmauer, liegt ein kleines Zaubergärtlein. Koseck legt los, er tut das schließlich zweimal an Wochenenden, auf Deutsch und auf Englisch: “Vor Zeiten war ein König und eine Königin, die sprachen jeden Tag, ‘Ach, wenn wir doch ein Kind hätten!’, und kriegten immer keins …”

Schon wieder Kinderlosigkeit, bestimmte Dinge ändern sich nie, und während Koseck mit leichtem Lispeln weitererzählt, schweift der Blick über ein kupferrotes Herbstmeer, vor dem Wald auf der nächsten Anhöhe grasen Auerochsen neben Rehen und Wildpferden.

Im Märchen würde man verstehen, was sie untereinander reden. Ob es Mobbing gibt? Ob sie ahnen, dass ihre Weide bald bespargelt wird? Jawohl, die Energiewende rückt dem Märchenland auf die Pelle, “bis zu 70 Windräder sollen hierher”, sagt Koseck, alle höher als die höchste Buche.

Im Raum neben der Rezeption warten zwei japanische Mädchen zwischen Koffern auf ihr Taxi. Sie nennen die Märchen “Meruchen”, und die werden gelesen, werden verschlungen in Asien, in Taiwan, Korea, China, es sind durchweg alleinstehende Frauen, die sich mit Rosentee und Rosenmarmelade und Postkarten eindecken und vom deutschen Märchenland nach Hause schreiben.

Ja, die Grimms sind in China populärer als bei uns. Als Koseck mit seinem Dornröschenschloss zu Gast auf einer Touristikmesse in Shanghai war, berichtete “China Daily” davon auf der Titelseite: “Dornröschen in Shanghai”.

Was sehen die anderen in uns, das wir selbst nicht mehr sehen? Sind wir blind geworden, weil es mal eine Überdosis an düsterer Märchenhaftigkeit gegeben hat? Nicht weit von hier planten die Nazis einen “Heiligen Hain”. Seither sind die Deutschen wieder traumlos. Und sie passen auf, dass es so bleibt.

In den USA heißt Dornröschen “Sleeping Beauty”. Was Brad Pitt nicht davon abhielt, einen Abstecher hierher zu machen, als er die Documenta in Kassel besuchte. Vielleicht auf der Suche nach Anregungen für die “Dornröschen”-Adaption, bei der seine Lebensgefährtin mitwirkt. Angelina Jolie spielt ausgerechnet die dreizehnte Fee, die böse, aber die Diven scheinen Schlange zu stehen für grimmsche Charakterrollen. “Die Amis”, sagt Koseck.

Dann verabschiedet er sich an diesem strahlenden Wintervormittag unter blauem Himmel, lächelt sein schmales Systemphilosophen-Lächeln und verschwindet wieder im laubberankten Dornröschen-System.

Die Entschärfungskommandos, die den grimmschen Märchenwald nach ideologischen Tretminen durchforsteten, waren in der alternativen Pädagogik der siebziger Jahre besonders aktiv. Da wurden Kinder einerseits ermutigt, ihre Töpfchen an die Wände antiautoritärer Kinderläden zu knallen, andererseits waren sie naturhaft gute Unschuldswesen, die man vor dem bösen, autoritären Wolf schützen musste. Die Kindheit wurde gleichzeitig verkitscht und verkorkst.

Seitdem werden die Grimms umgeschrieben. Wenn Karen Duve in ihrem “Grrrimm” das “Schneewittchen” als “Zwergenidyll” neu verfasst, achtet sie auf feministische Etikette. Da sind die Zwerge ein Haufen geschäftstüchtiger Männer, von denen einer das Schneewittchen zu vergewaltigen sucht: Merke, traue keinem Mann, so klein er auch ist.

Tatsächlich bieten die Grimms erhebliches Belastungsmaterial. In ihren Märchen sind Frauen giftig, zickig, eitel, grausam. Nehmen wir das Märchen von “Hänsel und Gretel”, die von der Mutter zum Sterben tief in den Wald geführt werden, weil die Nahrung nicht für alle reicht. Das konnte nicht so stehen bleiben.

Für die “Hörzu” erinnerte sich Jörg Pilawa, dass ihn als Kind vor allem das Erschrecken bewegte, “dass der Vater seine Kinder im Wald ausgesetzt hat”. Da haben sie dem kleinen Jörg wohl eine feministisch überarbeitete Version vorgelesen.

Der Skandal des Märchens besteht ja gerade darin, dass es die Mutter ist, die darauf dringt, die Kleinen im Wald auszusetzen – gegen die Proteste des Vaters. Und das Märchen rührt an ein weiteres, tieferes Tabu: das des Kannibalismus. Hänsel hat sein Fingerchen durch die Gitterstäbe zu strecken, die Hexe möchte ihn schlachtreif haben. Er hält ein Knöchelchen dafür hin.

Grimm-Experte Maar vermutet, dass Hexe und Mutter Aufspaltungen der gleichen Figur sind und dass in diesem Vorgang der Kannibalismus verkapselt ist, den es in der bestialischen, von Hungersnöten und Pest und Hexenverfolgungen heimgesuchten Zeit des Dreißigjährigen Krieges gegeben hat.

Grimms Märchen sind ein Steinbruch aus Geschichten mit langer Wirkung. Jeder hat sich bedient. Die Nazis mit ihrer Vergötterung der “Volksgemeinschaft” haben in ihnen eigene Heldenräusche gespiegelt, weshalb die Märchen von Besatzungsoffizieren nach dem Zweiten Weltkrieg indiziert wurden. Diese hatten sich gefragt, wie diesem Volk der Dichter und Denker das Mördervirus in die Blutbahn kam, und sie waren in der wüsten Welt der Grimms fündig geworden.

Der britische Major T. J. Leonard befand, dass die gebildete deutsche Nation ihre Kinder “an alle Spielarten der Grausamkeiten und Perversitäten” gewöhnt habe, so dass die Deutschen sich leicht in “die Rolle des Henkers” fügen konnten.

Der Schriftsteller Günther Birkenfeld sah in den Märchen gar die Gründe dafür, “dass deutsche Menschen die Gräueltaten von Belsen und Auschwitz begehen konnten”. Allerdings wurden die Märchen gerade in der sowjetischen Besatzungszone rehabilitiert, schließlich wurden sie in der Familie Marx geschätzt.

In der DDR galten sie als klassenbewusst-proletarisches Erziehungswerk, denn sie zeigen das einfache Volk in seiner schöpferischen Phantasie.

Dennoch haben die grimmschen Märchen längst den Sprung hinaus in die Welt getan. Die Verzauberung der schnöden Wirklichkeit geht auch in Hollywood, der großen Märchenmaschine, weiter, und zwar machtvoll. Amanda Seyfried als Rotkäppchen erlebt ihr sexuelles Erwachen mit einem Werwolf, Kristen Stewart lässt sich als vampirblasses Schneewittchen von einer furiosen Charlize Theron durch dunkle Wälder jagen, und Julia Roberts stellt sich in zickiger Grausamkeit vor den Zauberspiegel.

Deutsche Romantik wird geschätzt, dunkler Tann, düstere Hexen, mondbeglänzte Weiher, deutscher Wahnsinn. Uns dagegen fallen nur noch Otto-Blödeleien mit den sieben Zwergen ein. Ein Trauerspiel, ein Offenbarungseid.

Wie kann uns der grimmsche Zauber heute noch gefangen nehmen, jenseits der touristischen Verwertung? Natürlich nur in der entschlossen träumerischen Guerilla-Aktion, in Ein-Mann-Kommandos der Kunst.

Was da alles über die Wände tanzt in diesem Kapitänshäuschen in Hamburg-Övelgönne an der Elbe. Grimms Froschkönig mit roter Zunge in den Schatten der Jalousie, in zarten Tuscheschwüngen ein Prinz mit angelegter Turnierlanze und draußen die Kräne des Containerhafens, Schiffe im Fenster und daneben das Dornröschen, das in einem Blütenkelch schlummert, Tuschezeichnungen, Sonnenkleckse, Schriftschnörkel, das Damals und das Heute ineinandergeschlungen, und Albert “Ali” Schindehütte mit weißer Löwenmähne mittendrin, der erzählt.

Ali Schindehütte ist der bedeutendste Grimm-Illustrator der Zeit, der Foliant “Es war einmal …” ist eine Kostbarkeit aus Schriftkunst und Tuschezeichnungen, aus grimmschen Märchen und editorischen Essays des Grimmforschers Heinz Rölleke.

Bei Tee und Lebkuchen berichtet der 73-jährige Künstler von seiner Suche nach jenem legendären Grimm-Zulieferer, dem Dragonerwachtmeister Johann Friedrich Krause, dem wahrscheinlich einzigen echten “Mann aus dem Volk”, der die Grimms mit Geschichten belieferte, aus Breitenbach bei Kassel, also aus genau dem Kaff, in dem auch Schindehütte groß wurde, ohne dass er von ihm wusste.

Offenbar saß Krause gern in Wirtshäusern herum, er schnappte auf und gab weiter, erzählte Sachen wie “Der gelernte Jäger” und “Der alte Sultan” und vor allem “Herr Fix und Fertig”, Schindehüttes Favorit, das alles gegen “abgelechte bein Kleider” der Herren Grimm. Krause, fünf Fuß, neun Zoll und zwei Strich groß, das waren stolze 162,9 cm. Dann erfuhr Schindehütte nach einem ersten Hinweis aus dem Taufregister von seiner Verwandtschaft mit Krause. So hat er seinem Vorfahren ein Buch gewidmet, und darüber hinaus ihm und den Grimms in seinem Heimatort ein Museum gestaltet, die “Schauenburger Märchenwache”.

Es muss nicht alles kindgerecht sein, sagt er, das sind Grimms Märchen doch auch nicht, die sind urwüchsiger, rätselhafter. Seine eigenen Kinderjahre waren die pure Anarchie. “Heute geben die Leute zig Millionen aus für Ratgeberbücher, um ihre Kinder zu verstehen und ihnen ihre Geheimnisse zu nehmen.”

Schindehütte hat sich seine Kindheit gerettet, er studierte Grafik, verweigerte den Kriegsdienst. In einem Kreuzberger Hinterhof gründete er 1963 mit anderen die “Werkstatt Rixdorfer Drucke”.

Es waren die heroischen und, ja, romantischen Zeiten in der jungen Bundesrepublik, denen er jetzt einen weiteren Folianten widmet(*). Wieder ein Werk deutscher Archäologie, des Sammelns und Bewahrens, wie es die Grimms 200 Jahre früher taten, als der napoleonische Sturm über die Ordnung Europas so hinwegfegte, wie es heute die Globalisierung tut.

Wie einst die Romantiker waren in den frühen sechziger Jahren Dichter und Künstler und Sprachentgrenzer unterwegs, die Rixdorfer drückten den Dichtern F. C. Delius und H. C. Artmann Setzkästen in die Hand, die Kunst an die Macht, Nicolas Born und Rühmkorf und Hans Christoph Buch machten mit, und mittendrin Schindehütte.

Dann schoben sich zunehmend Sagen und Märchen in seine Zeichnungen, natürlich die Grimms, und er vertiefte sich in jenes andere, imaginäre Deutschland der Anfänge. Was da hochkam an Volksvermögen und an Subversion, waren Rätsel, mit denen nur Künstler und Kinder umgehen können. Rätsel, die Pädagogen und Ausdeuter verrückt machen. Sie sind eine Herausforderung geblieben bis heute. Gott sei Dank.

In seinem Heimatort, der heute Schauenburg-Breitenbach heißt, hat Schindehütte seine “Märchenwache” gestaltet, die klügste und schönste Hommage an die Grimms, die Märchenerzähler der Deutschen.

In dem Ort werden keine Kühe mehr durch enge Gassen getrieben, der Flecken hat sich wegen des nahen VW-Werks in eine Mustersiedlung von Wüstenrot-Modellhäuschen verwandelt.

Vor dem Eingang der umgebauten Feuerwache hat Schindehütte eine Tafel angebracht, auf der das Grimm-Märchen “Die Wassernix” geschrieben ist, aber auf dem Kopf und spiegelverkehrt. Davor ein kleiner Kunstteich, der den Text ins Verständliche spiegelt. Schöner lässt sich die romantische Ironie, die eine der Spiegelungen ist, nicht gestalten.

Man muss tief hineinschauen in diesen Brunnen der Vergangenheit, um das Märchen entziffern zu können. Und dort unten bei der Wassernix, der die beiden Kinder, die sie in ihre Gewalt gebracht hat, mit List und Gottvertrauen entkommen, erkennen wir vielleicht uns selbst.

Mit all unseren Ängsten und Hoffnungen und Traumbildern, die uns in Abständen heimsuchen, wenn wir uns in die Märchen der Grimms tatsächlich – vertiefen.

Erschienen am 17.12.2012 im DER SPIEGEL 51/2012