Es war einer der spektakulärsten Kriminalfälle der Bundesrepublik, ein Fiasko für Polizei und Medien. Nun erzählt der Schriftsteller Peter Henning, 25 Jahre danach, das Gladbecker Geiseldrama in einem packenden Roman.

Wer würde hier in der Kölner Breiten Straße der NSA auffallen, auf einem dieser Rasterzooms aus dem All, die wir aus Thrillern wie “Staatsfeind Nr. 1” kennen?

Wohl dann doch diese junge Frau, auf den Stufen zur U-Bahn. Sie ist die Einzige, die nicht auf ein Handy-Display starrt, sondern in ein Buch, halb im Untergrund, verdächtig, reglos.

Doch auch die übrigen Passanten haben allenfalls das Tempo von Leguanen, Sommerschwüle verwandelt die Shopping-Meile schon um elf in ein Terrarium.

Die Stadtnomadin auf der Treppe, hennarot, Leopardenmini, schmutzige Füße, Plastiktüte, hält in den Händen eine 1000-Seiten-Schwarte, irgendwas mit Anwalt und Satan, sie hat gerade angefangen.

Hoch über ihr eines dieser Motivationsposter, “Rock your life!”, für die Jugend 2013: “Ich will Judith Rakers werden.” Die hier will es bestimmt nicht, vielleicht will es selbst Judith Rakers nicht, bei der Hitze.

“Wie vor 25 Jahren”, sagt Peter Henning, 54, Schweißteller unter den Achseln, grimmiges Lächeln, Stoppelfrisur, eher der Typ ziviler Ermittler, sachlich.

Auch damals, als das Drama spielte, über das Henning einen Roman geschrieben hat, war eine gespenstische Verlangsamung im Lande, ein Jahr bevor die Weltgeschichte die Fenster aufstieß und Deutschland wurde, was es heute ist.

Damals allerdings, in diesem Stillstand, war hier in der Breiten Straße ein 7er-BMW festgekeilt, und der war umflattert von hysterischen Reporterschwärmen, die ranwollten, denn im Auto saß das Böse.

Ein Schlagzeilenfestival. Zwei bewaffnete Kleinganoven mit Geiseln, Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski, hatten in Gladbeck eine Bank überfallen, beide waren tätowiert, Rösner mit dem Spruch “Ich hasse euch alle”, und beide gaben Interviews.

Sie waren bereits Titelhelden.

Tatsächlich: In einer qualvollen Zeitlupe war das Böse durch die Städte gezogen, aus dem Ruhrgebiet nach Bremen, dann über die niederländische Grenze, dann nach Köln, weil Rösner mal den Dom sehen wollte, vor den Augen einer ohnmächtig-untätigen Polizei und einer Öffentlichkeit, die hungrig war auf den ungefilterten Rohstoff, auf Drama und Angst und Brutalität in Echtzeit.

Rösner und Degowski hatten in Kameras gesprochen, “ich scheiß auf mein Leben”, hatte Rösner gesagt, er hatte sich den Pistolenlauf in den Mund gesteckt, großes Kino, das hier in Köln war die vorletzte Station.

Frank Plasberg hielt sein Mikro hin, einer von vielen, RTL wurde damals groß, es kamen die Print-Leute, auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen, und alle stellten hektisch die gleiche Frage an die Geisel Silke Bischoff, der sich der Revolverlauf Degowskis in den Hals bohrte.

Die Frage hieß: “Wie geht es Ihnen?” Tatsächlich, das wurde gefragt.

Die große Hektik war gleichzeitig die große Leere. Das Böse, das sie alle berühren wollten, ja, dem sie unter die Hirnschalen kriechen wollten, verschlug ihnen die Worte, ließ sie stammeln.

Schließlich stieg Udo Röbel, Vizechef des Kölner “Express”, der sein Büro in der Nähe hatte, ins Auto ein und lotste die Gangster aus der Stadt. Nahe an Beihilfe, vor allem aber ganz dicht dran.

Silke Bischoff übrigens hatte auf die Frage, wie es ihr gehe, geantwortet: “Ja, gut.”

Wenige Stunden später war sie tot. Das Sondereinsatzkommando (SEK) aus Nordrhein-Westfalen hatte sich auf der Autobahn zum Zugriff ohne Rücksicht auf Verluste entschlossen, kurz vor der Grenze zu Rheinland-Pfalz und damit gerade noch innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs.

Die Fernbedienung, mit der man den Motor des präparierten Fluchtautos hätte abschalten können, war vergessen worden. Mehr als 60 Schüsse wurden auf die hinten seitlich gerammte Limousine abgegeben.

Die Behörden behaupteten, Silke Bischoff sei zweifelsfrei durch Rösners Waffe erschossen worden, obwohl Rösner auf dem Fahrersitz vor ihr war. Das Projektil ging erst bei der Obduktion verloren und tauchte dann völlig verformt wieder auf.

Rösner wurde dann auch nur wegen versuchten Mordes (und der Geiselnahme) zu lebenslanger Haft verurteilt.

Das Gladbecker Drama, bei dem zwei Geiseln und ein Polizist starben, ging als eine der peinlichsten Stümpereien in die deutsche Polizeigeschichte ein. Telefonnummern stimmten nicht, der Funkkontakt brach ab, Kompetenzwirrwarr.

Doch es war auch der Sündenfall der Medien, die jede Distanz aufgegeben hatten, eine Tragödie in Zeitlupe, ganz sicher auch eine moralische. Autor Henning: “Der Gipfel war wohl, als ein Reporter dem sterbenden italienischen Jungen den Kopf anhob, damit der besser fotografiert werden konnte.”

Peter Henning hat seinen Roman “Ein deutscher Sommer” genannt, weil er weit über die Gladbecker Ereignisse hinausgeht(*). Er beschreibt Sitten und Haltungen einer ratlosen Stille, eine Welt der Münztelefone und einbeinigen Loewe-Palcolor-Fernseher, ein Panoptikum der scheußlichen letzten westdeutschen Jahre, Missmut unter Kanzler Kohl, bevor der politisch wiedergeboren wurde.

Henning ist das Kunststück gelungen, die sattsam bekannte Fakten-Wahrheit mit der inneren zur Reibung zu bringen.

Sieben Lebensläufe erzählt er, neben drei der real Beteiligten auch vier er-

fundene, auch Nebenfiguren, die in den Strudel geraten sein könnten, wie das Mädchen auf der Treppe.

Schon vor Jahren hatte Henning diesen Fall im Kopf, noch vor seinem meisterhaften 600-Seiten-Familienhysterie-Roman “Die Ängstlichen”, der ihn auf die Landkarte der deutschen Gegenwartsliteratur setzte. Und der beginnt tatsächlich mit einem Zoom aus dem All, bis er sich auf der Suche nach Wahrheit durch den neurotischen Dschungel seiner Figuren schlägt. Was die NSA kann, kann der Romancier schon lange.

“Ein deutscher Sommer”, diese atemberaubende und klug konstruierte Erkundung jüngster deutscher Geschichte, beginnt ganz unten, beginnt mit der Fahrt zur Bank, mit einer Motorradfahrt, die schiefgeht, weil sich Kumpel Degowski in der Kurve in die falsche Richtung lehnt. Henning beginnt mit der Atemlosigkeit des Boulevards, viel PS, viel Testosteron, viel drängendes Tempo.

Doch auch wo der Roman komplizierteren Tiefenbohrungen nachgeht, Fragen wie der nach der Verlässlichkeit von Bildern, ist dieses Drängen, dieser untergründige Sog spürbar.

Und dann tauchen in diesem Erzählstrom Figuren auf wie jene Taxifahrerin mit ihrem Trauma, die am Tag des Überfalls von einem Journalisten zur Verfolgung des Täterautos überredet wird, und andere wie der Pole Adam, der den Bus fährt, beide kurz vorher verbunden durch eine zarte Liebesgeschichte.

Gibt es das Böse? Henning zuckt die Schultern. Es gibt ganz sicher den bösen Zufall. “Degowski stand auf blonde Frauen”, erzählt er. “Und Silke Bischoff hatte sich wenige Tage vor ihrer Busfahrt in Bremen blond färben lassen – deshalb hat er sie als Geisel ausgewählt.”

Der tumbe Verlierer Degowski hatte eine Knarre. Und nun hatte er eine blonde Frau.

Mit dem ehemaligen Dortmunder SEK-Beamten Rainer Kesting aus dem Einsatzkommando hatte sich Henning angefreundet. Vom Fotografen Peter Meyer, der den Mittler zwischen Gangster und Polizei gab, ließ er sich über die Vorgänge im gekaperten Verkehrsbus berichten.

Tatsächlich hatten die Gangster in Bremen einen Bus gekapert. Als auf einem Stopp an der Raststätte Grundbergsee Rösners Freundin mit mehreren Geiseln aufs Klo ging und von Polizisten “abgefischt” wurde, drohte Rösner mit Geiselerschießungen. Rösners Freundin wurde wieder freigesetzt, doch als sie zurückkam, war es zu spät.

Da hatte Degowski bereits den 15-jährigen italienischen Jungen Emanuele de Giorgi in den Kopf geschossen.

Henning will mehr als nur die Verdopplung des Geschehens. Im Überwachungsdeutsch gesagt: Die Bewegungsprofile sind bekannt, doch deren tiefere Wahrheiten lassen sich nur mit den Algorithmen der erzählerischen Phantasie durchdringen.

Wir fahren nach Gladbeck, dahin, wo alles begann, hin zu den Chancenlosen, auch Henning hatte nicht die besten Chancen, er kam bereits mit ein paar Monaten ins Heim, dann zur Großmutter, später kümmerte er sich um einen morphiumsüchtigen polnischen Onkel.

Ein Kämpfer, keine literarische Betriebsnudel. Noch heute jeden Abend Hanteltraining, früher hat er Tennis auf Liga-Niveau gespielt. Noch früher Fußball bei Hanau 93, auf der anderen Seite, beim Gegner, dribbelte manchmal ein anderer Halbwüchsiger, der Rudi Völler hieß. Später ein Germanistikstudium, abgebrochen, Weltenfahrer, dann Journalist, auch um mit denen in Kontakt zu treten, die in der literarischen Welt Randgebiete besiedeln. Einzelgänger.

Nun schwärmt er doch. Paul Bowles in Tanger etwa oder Cioran in Paris, ein großer Versteckspieler, der ihm mal gestand: “Ich empfehle den Selbstmord schriftlich, um mündlich von ihm abzuraten.” Der ebenfalls in Paris lebende Dichter Paul Nizon war sein Lehrer und ist ein Freund.

Henning hat spät zur Literatur gefunden. Journalismus ist übrigens nicht das schlechteste Training, denn als Journalist musst du mit jedem Absatz erneut um einen zerstreuten Leser kämpfen. Und Henning kämpft.

“Für mich war Gladbeck damals wie die Fortsetzung von Menges ‘Millionenspiel’ aus den siebziger Jahren”, erinnert er sich, “ein regelrechter Reality-Thriller, nur waren jetzt die Mörder echt und die Journalisten auch.”

In Menges bitterböser Satire auf den Fernsehbetrieb moderierte Dieter Thomas Heck die Jagd der Killer auf ihre Beute, hier war es Hans Meiser von RTL, der in der Bank anrief.

“Hier ist Hans Meiser, deutsches Fernsehen, guten Tag, kann ich bitte einen der Geiselgangster sprechen?”

“Wer ist da?”

“Wer sind Sie denn bitte?”

“Wer wohl? Der Bankräuber.”

Es folgt der wenig ehrenhafte Versuch, aus dem Fernsehstudio heraus mit dem Gangster Strategie und Taktik zu besprechen.

“Na, nun gut”, sagte Meiser schließlich, “man kann Sie ja mit Hubschraubern verfolgen.”

“Das Gespräch ist beendet”, sagte Rösner und legte auf.

“Der Rösner war plötzlich wer”, sagt Henning. “Plötzlich sagten die Journalisten alle ‘Herr Rösner’ zu ihm. Der war davon zugleich angeekelt und amüsiert.”

Rösner und Degowski hatten keinen Plan. Nachdem den Gangstern die 300 000 Mark Lösegeld von einem Polizisten in Unterhose vor die Tür der Bankfiliale in Gladbeck geschoben wurden und tatsächlich ein Fluchtauto bereitgestellt worden war, zogen sie ab, mit Bankgeiseln.

Und wohin? Erst mal die Freundin abholen. In der Apotheke einkaufen, mit der Knarre rumfuchteln, neues Fluchtauto. Und dann? Wieso nicht nach Bremen, da hatte die Freundin Verwandte.

Die Polizei ließ sie an langer Leine, um, so einer der Ermittler, nach Beendigung der Geiselnahme “in eine Fahndungssituation” hineinzugehen. So klingt Ohnmacht, wenn sie später vor einer TV-Kamera amtlich formuliert wird.

In Bremen ging Rösner erst mal shoppen mit seiner Freundin. “H & M, er kannte nichts anderes”, sagt Henning. Der Knaller: “Er besorgte sich ein T-Shirt mit dem Aufdruck ‘Commander’.”

Degowski blieb mit den Geiseln aus der Bank allein im Fluchtauto zurück. Irgendwann stieg auch er aus, um zu pinkeln. Auch in diesem Moment sah die Einsatzleitung “keine Zugriffssituation”.

Das Ruhrgebiet musste schnell wiederaufgebaut werden, man sieht es ihm an, vieles erinnert an den Osten. Man feiert seine Helden. Auf einer Autobahnbrücke vor Essen: “Rahn müsste schießen”. Auf der nächsten: “Tor! Tor! Tor!”

Gladbeck empfängt überraschend grün mit Park und freundlichen Uferweiden an einem Bach, es hat ein “historisches Zentrum”, die letzte Zeche wurde 1971 geschlossen. Ein nettes Provinzstädtchen mit der üblichen Häufung an Muskelbuden, Videotheken und Döner-Imbissen.

Doch seit der Geiselnahme ist Gladbeck eine Marke im Kollektivbewusstsein, ein Schicksalswort, ein Begriff für ein ungeheuerliches Versagen der Zivilgesellschaft, ja, für deren Ohnmacht schlechthin. Das Böse durfte sich austoben und selbstbewusst Interviews geben, sogar in den “Tagesthemen”.

Heute hat das Städtchen nicht mit dem Bösen zu kämpfen, sondern mit der Arbeitslosigkeit, die, das sagen viele, das Böse erst ausbrüten kann.

Die Deutsche-Bank-Filiale in Gladbeck-Rentfort, wo alles begann, hat längst dichtgemacht. Später war Schlecker drin, aber die haben ohne jeden Überfall aufgegeben. Ansonsten: Supermarkt Nahkauf, zwei russische Alte mit Rollator davor, Blumenladen, Geschenkartikel, Apotheke, vieles ist neu zu vermieten.

Ein kleines Atrium zu Füßen eines 15-geschossigen Wohnsilos, einer Platte, die leer steht. Am Bauzaun das bunte Kinderladenschild: “Wir alle sind Rentfort-Nord” mit einer Art Großfamilie darauf, Alt und Jung, deutsche und türkische Fahnen, klingt besser als “Wir alle sind Gladbeck”, doch auch Rentfort ist Endstation, türkische Teenager bieten eine Besichtigungstour in den verrammelten Hochbau an, wo ein paar Junkies leben sollen.

Windstilles Deutschland, allerdings eines, das sehr viel besser im Bilde ist über die Welt, Rösner und Degowski wären heute längst auf den Handys der Kids und die Namen von Rappern.

Die Apothekerin sagt: “Hoffentlich kommt der Rösner nie wieder raus.” Eigentlich könnte er 2016 abgebüßt haben, allerdings wurde gleich mit der Haftstrafe eine anschließende Sicherungsverwahrung angeordnet.

Und Degowski? Schwierig, eigentlich könnte er dieses Jahr rauskommen. Ist er integrierbar, ein Killer nach 25 Jahren Knast? Er hat eine Kochlehre absolviert. Was würde die NSA sagen? Das Bewegungsprofil der vergangenen 25 Jahre würde nicht viel hergeben, Degowski ist digital völlig unbeschrieben, aber da ist immerhin die Sache mit den Kochtöpfen.

Auch für Degowski hat sich die Welt geändert: Mittlerweile gibt es den Euro, rumballern und “Kohle her” ist hitverdächtig, und vor Gericht stehen Banker, die etliche Milliarden versenkt haben.

Lahdo, der türkische Pizzabäcker an der Ecke, armenischer Christ, der von Erdogan nichts wissen will, schuftet allein, “die Jungs wollen nicht mehr arbeiten, wo soll das hinführen”, rock your life, er verkauft die Pizza Diavolo zum Kampfpreis von 3,50 Euro. Gladbeck ist Deutschland.

Hennings Roman war gut 200 Seiten länger. Er hat die Umweltterroristen rausgeschmissen, die für den Erhalt der Eiablageplätze eines seltenen Schmetterlings, des winzigen Ameisenbläulings, kämpfen. Er ist Schmetterlingskenner von früher Kindheit an, sein Bildschirmschoner auf dem iPhone ist ein Schwalbenschwanz.

Schade um die Kürzung. Aber vielleicht ist es ja ein neuer Roman, über den Schutz der Schöpfung und Terroristen mit Schreibmaschinen und selbstgebauten Waffen? Nein?

Na gut, dann eben eine Beziehungsgeschichte, mit starken Frauen!

Erschienen am 22.07.2013 im DER SPIEGEL 30/2013