Alle warten auf den nächsten Papst, Alexander Kissler schaut zurück. Mit seinem Buch “Papst im Widerspruch” legt er eine theologisch seriöse Würdigung des Pontifikats von Benedikt XVI vor.

Zu den lustigsten Reaktionen auf den Papstrücktritt gehörten die seiner schärfsten Kritiker. Ausgerechnet diejenigen, die ihn schon lange zum Teufel wünschten, wurden plötzlich zu Kreuzes-Theologen – sie wünschten ihm ein langes Leiden im Amte. Sie stimmten dem Krakauer Erzbischof zu, dass Jesus auch nicht vom Kreuze herabgestiegen sei.

Tatsächlich ein komischer Heiliger, dieser Papst. Er sprach leise und erntete Stürme, im Ausland eher jubelnde, bei uns eher wütende. Laut war es immer um den kleinen Professor.

Schnell gab es die notorischen und leicht verlogenen Souvenir-Bücher aus dem Weltbild-Verlag, jener Geldmaschine im Besitz der deutschen Bischöfe, die der Papst verkauft sehen wollte, weil sie auch Geschäfte mit pornografischen Titeln macht.

Doch nun gibt es Alexander Kisslers “Papst im Widerspruch”. Das Buch horcht das Pontifikat ernsthaft ab, zeichnet seine theologischen und philosophischen Linien nach und macht klar, worin die Bedeutung dieses Kirchenlehrers lag. Fünf Jahre lang hat Kissler daran gearbeitet – man spürt es auf jeder Seite.

Der Autor sieht in dem scheuen Benedikt den “Mystiker auf dem Papstthron”, der seine Wahrheit “von innen her” erschloss. Einer, der Novalis ernst nahm und dessen berühmte Zeile “nach innen geht der geheimnisvolle Weg”.

Benedikt XVI. wurde missverstanden

Kissler erzählt von Benedikts Kindheit und ihren Prägungen durch den bayerischen Katholizismus, weißblaue Wolken, Zwiebelturm-Kirchen. Und dem Militär. “Priester werden wir im neuen Deutschland nicht mehr brauchen”, blaffte der Ausbilder im Arbeitsdienst 1944. Ratzinger wusste schon da: Ihr werdet sie brauchen, mehr denn je.

Dann die Studienjahre, die Habilitation über den Mystiker und Kirchenlehrer Bonaventura, der “simplex et idiota” war, einfach und ganz bei sich. Schon 1958 erkennt Benedikt: “Das Heidentum sitzt in der Kirche”. Dieser Papst, so Kissler, lässt das Thema der “Entweltlichung”, die er von seiner Kirche fordert, schon früh anklingen.

Die Professorenjahre, Tübingen mit seinen Hörsaal-Tumulten. Bereits in den frühen Achtzigern verlangt der Theologe Ratzinger den “Ausbruch aus dem Gefängnis der öffentlichen Meinung”.

Doch es ist schließlich das Pontifikat, auf das sich Kissler konzentriert. Gleich zu Beginn die überraschende Enzyklika über die Liebe “Deus caritas est”. Wie schenkt man der Welt den Gottesglauben wieder? Indem man ihr klar macht: Gott ist die Liebe zum Nächsten.

Keine Spur von Leibfeindlichkeit, auch die körperliche Liebe ist ein göttliches Geschenk, gerade deshalb sollte sie nicht konsumiert werden wie ein Big Mac. Selten, so führt Kissler vor, ist schöner und heller über die Liebe geschrieben worden.

Gerechtigkeit gefordert

Benedikts Sozialenzyklika “Caritas in veritate”, die vielleicht wichtigste, blieb selbst von sogenannten Experten unbeachtet. In einer Talkshow nach der Rücktrittsankündigung murrte Heiner Geißler, dass sich der Papst nicht gegen die Ungerechtigkeit der Welt ausgesprochen habe. Die Enzyklika, das weist Kissler nach, war eine einzige Mahnung genau darüber.

Benedikt XVI. forderte “Regeln der Gerechtigkeit” sowie “Mechanismen zur Umverteilung”, ja, eine Reform “der internationalen Wirtschafts- und Finanzgestaltung”. Darüberhinaus solle die Völkergemeinschaft eingreifen, wenn sich Elend und Kriege durch die Kontinente fressen. Kissler belegt, wie diese Gedanken in zahllosen Predigten, auf zahllosen Reisen, wiederholt wurden.

Seine persönlichste und stärkste Enzyklika, “Spe salvi”, liefert das, was Kissler die “Große Erzählung” nennt: Worauf dürfen wir hoffen? Zur Hoffnung auf das Reich Gottes gehört ganz besonders die auf Gerechtigkeit. Hier zitiert Benedikt den Neomarxisten Adorno: dass Gerechtigkeit eine Welt verlangen würde, “in der nicht nur bestehendes Leid abgeschafft, sondern noch das unwiderruflich vergangene (Leid) widerrufen würde.”

Rückkehr der Piusbrüderschaft

Darin ist eine der berühmten Thesen des jüdischen Marxisten und Erlösungsmystikers Walter Benjamin enthalten. Es ist eine theologische: Wenn das vergangene Leid korrigiert werden soll, muss die Hoffnung auf ein jüngstes Gericht mitschwingen.

In die vielen Lehrschreiben, Ansprachen und Predigten eingestreut sind die drei Jesus-Bücher Benedikts. Dieser Papst war ein Missionar besonders für das alte Europa, das er im “Zustand der Apostasie, der Glaubensabfalls” gesehen hat.

Das ausführlichste Kapitel widmet Kissler der Auseinandersetzung um die Rückkehr der Piusbrüderschaft, in der sich schriller Lärm und Missverständnisse überboten. Kaum einer verstand, dass es um ein rein kirchenrechtliches Verfahren ging. Die Bischöfe wurden nicht rehabilitiert, es wurde ihnen lediglich die Möglichkeit gegeben, die Sakramente einzunehmen. Suspendiert blieben sie weiterhin. Zu keinem Zeitpunkt wurden damit die abenteuerlichen Ansichten des irren Bischof Williamson bestätigt.

Kissler entdeckt jenen spannenden Kern der Debatte, der unbemerkt blieb. Benedikt XVI. rang mit der Bruderschaft, weil er die Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils gegen sie verteidigen wollte, insbesondere in der Frage der Religionsfreiheit.

Benedikts Haltung zum Missbrauchsskandal

Benedikt XVI war hier viel eher ein Mann des Zweiten Vatikanums als all die Reformtheologen. Das Zweite Vatikanum bestätigte Zölibat und Männerpriestertum. Latein wurde als Sprache der Liturgie festgeschrieben und tatsächlich sprach es von den protestantischen Brüdern lediglich als “kirchlichen Gemeinschaften, die sich den Ereignissen verdanken, die wir Reformation nennen.”

Es war diese Formulierung, die bei uns für große Empörung sorgte, sowohl bei der EKD wie bei Kommentatoren. Lag hier er Grund dafür, dass der Papst zum 50. Jubiläum zur neuen Beschäftigung mit dem Zweiten Vatikanum aufforderte? Und gleichzeitig ein Jahr des Glaubens ausrief?

Das wäre mehr als nötig, schreibt Kissler: Die meisten Kirchenmitglieder sind keine Christen mehr. Nach einer jüngsten Umfrage in Hessen glauben nur noch 33 Prozent der Katholiken an einen persönlichen Gott, und nur 27 Prozent der Protestanten. Der Glaube an Christus ist die Grundlage des Christentums.

Kissler begleitet den Papst in seinen Predigten auf seinen Reisen, oft schwierigen Missionen. Und er rückt zurecht, was oft unterging, etwa seine entschlossene Haltung zum Missbrauchsskandal, diesem “Vulkanausbruch des Schmutzes”.

Leise Kritik an Benedikts Rücktritt

Minutiös zeichnet Kissler die “Vatileaks”-Affäre nach, und verwebt sie am Schluss des Kapitels mit der Judas-Figur, über die der Heilige Vater so oft predigte. Judas war enttäuscht von Jesus. Er wollte nicht Jesus’ Opfertod, sondern ihn als Krieger. Man muss diesen theologischen Echoraum mitdenken, wenn man den Papst verstehen will, in allem, auch seiner Erschöpfung. Der Teufel hatte von Judas Besitz ergriffen, und der Teufel tauchte nun in der Nähe des Papstes auf.

In der Generalaudienz vom 23. Januar, sprach Benedikt vom Glauben, der “uns zu Trägern von Werten” mache, “die oft nicht mit der Mode und Meinung des Augenblicks übereinstimmen.” Worte des Widerstands. Seinen Rücktritt hatte er zu diesem Zeitpunkt bereit beschlossen. Hier lässt Kissler leise Kritik anklingen. Hat Benedikt nicht den “Vernunft”-Begriff überdehnt und zu einer ganz persönlichen Sache gemacht? War er darin zu subjektiv?

Der papsttreue Alexander Kissler kommt überraschend zum Schluss, dass dieser Rücktritt, jenseits des Kirchenrechts, das ihn erlaubt, ein Unding sei. “Ein Vater kann seine Vaterschaft nicht kündigen, ebenso wenig wie ein Stellvertreter seine Stellvertreterschaft”.

Auch Kissler neigt zur Ansicht, dass ein Papst im Amt sterben sollte. Das tut er allerdings nicht aus Hass auf die Kirche, sondern aus Liebe zu ihr.

Erschienen am 13.03.2013 www.spiegel.de