Hundert Jahre nach dem Tod des damals weltberühmten amerikanischen Großschriftstellers Mark Twain ist endlich seine Autobiografie erschienen. Er wollte es genau so.

So können wir ihn uns vorstellen, weißhaarig, schnauzbärtig, erschöpft und oft im Bett, aber mit diebischem Vergnügen, mit Melancholie und viel Groll zu seiner Stenografin geneigt. Seine Welttournee war ein einziger gesundheitszermürbender Triumphzug – er wurde in Bombay auf der Straße erkannt – und spielte genug Geld ein, um alle seine Schulden zu begleichen, die er als Rockstar der Literatur und glückloser Erfinder und Vortragskünstler mit Neigung zu Luxus angehäuft hatte.

Er ist in diesen letzten vier Jahren bis zu seinem Tod 1910 der berühmteste Schriftsteller seiner Zeit, noch aktiv im Tagesgeschäft zwar, aber längst auch schon unsterblich. Und er diktiert seine Lebensbeichte, nichts als die ungeschminkte Wahrheit, allerdings mit dem Gespür für Pointen.

Hundert Jahre lang sollten die Notate unter Verschluss gehalten werden. Seine Anweisungen an die Verleger der Zukunft: “Alle vernünftigen Meinungsäußerungen müssen ausgelassen werden.”

Nun sind sie auf Deutsch erschienen, herausgegeben von der Berkeley-Universität, die seinen Nachlass verwaltet(*). Mark Twain, unplugged. Nicht verfälscht durch

Rücksichtnahmen. Man weiß, dass Twain der erste Stand-up-Comedian der englischsprachigen Literatur war – bei ihm zählt, besonders in diesen Notaten, das gesprochene Wort. Das macht ihren Reiz aus.

Er nimmt sich die kriegerischen USA vor, nennt ihre Soldaten “uniformierte Meuchelmörder”. Er zieht über die Geldmacher der Wall Street her, über seine Kritiker und Schriftstellerkollegen, erinnert an Freunde und solche, die ihn betrogen haben.

Twain, der als Samuel Langhorne Clemens in Hannibal in Missouri aufwuchs, holt in seinen Diktaten Entlegenes hervor und mischt es mit aktuellem Groll. Seine Erinnerungen folgen keiner Ordnung. Sie verfallen in Kindheitsschwelgereien und Schnurren und sind im nächsten Moment giftige Zeitattacke und Polemik. Der Geschmack einer Wassermelone oder von Ahornsaft öffnet ihm die Schleusen zur frühen Kindheit, wie es später ein Madeleine-Törtchen für Proust tat. Er ist dann anrührend poetisch, sinnlich, greifbar.

Die immense Popularität Mark Twains, der sich als Lotse, Goldschürfer, Journalist und Zeitungsunternehmer über Wasser hielt, bis er mit Mitte dreißig schlagartig als Reiseschriftsteller zur Berühmtheit wurde, liegt über seinem Werk wie ein großes Missverständnis. Er ist weit mehr als der Schnurrenerzähler. Er ist scharfsinniger Beobachter, leidenschaftlicher Pamphletist, ein Autodidakt mit dem absoluten Gehör für Dialog und Färbung. Mit seinem “Huckleberry Finn” hat er als Erster der englischen Sprache ihre Idioms abgelauscht, diesen Fluss aus Dialekt und Slang, aus Klassen und Rassen. Für Hemingway war “Huckleberry Finn” der Ursprung der modernen Literatur Amerikas. Twain wusste als Journalist und Erzähler: “Der Unterschied zwischen einem nahezu richtigen Wort und einem treffenden ist groß – es ist der Unterschied zwischen einem Glühwürmchen und einem Blitz.”

Der späte Mark Twain, der den Tod seiner geliebten Tochter und den seiner Frau zu verschmerzen hatte, ist desillusioniert und klarsichtig. In einer damals unter Verschluss gehaltenen Geschichte rechnete er mit dem Weltenschöpfer ab, der es zulässt, dass Kinder zu früh sterben und dass Menschen einander abschlachten, und der selbst zu Mord und Totschlag neigt. Aber er ist auch immer noch der Komiker, der Gerüchte über sein Ableben so kommentierte: “Die Nachricht über meinen Tod war übertrieben.”

Als sie wahr wurde, hinterließ er 5000 Seiten voller Erinnerungen und Indiskretionen. Gleich eingangs beschreibt er sein Verfahren, jene Mischung aus Banalem und Großem, die jede Lebenserinnerung enthalten sollte. Dinge der Gegenwart müssen auf Erinnerungen an ähnliche Dinge der Vergangenheit treffen, um Kontraste zu erzeugen. Der Rest sei Spiel. Aber auch: “Dieses Buch ist kein Rachefeldzug.”

In einer Episode über die Wall Street wird der Eisenbahnbaron Jay Gould aus der Vergessenheit geholt, der sich brüstete, er könne “die eine Hälfte der Arbeiterklasse anheuern, um die andere Hälfte umzubringen”. Dargestellt aber wird Gould als heute noch gültiger Prototyp, der die “kommerzielle Moral” der Nation umgestülpt habe, etwas, wovon sie sich “mindestens ein Jahrhundert lang nicht erholen wird”. Womit er recht behielt.

Erschienen am 24.09.2012 im DER SPIEGEL 39/2012