Seit den AfD-Triumphen wird wieder über das verloren geglaubte Konservative gerungen. Ein Besuch bei prominenten Protagonisten, unter anderem bei Wolfgang Bosbach, Konrad Adam und Hermann Lübbe.

Was ist das denn eigentlich nun, konservativ? Fragt man sich ja nach den Erfolgen der AfD, der tatsächlich zu gelingen scheint und die eintreten lässt, wovor Franz Josef Strauß einst seine Partei warnte: dass sich eine politische Kraft rechts neben der CDU etabliert.

Allerdings: Was ist rechts? Und wieso holt die Partei auch bei der Linken? Und warum sagt Angela Merkel, die AfD sei ein Problem für alle Parteien? Und wo kommen all die Protestler her im Wirtschaftswunderland?

Vielleicht sollte ich die Kids dort vor dem Reichstagsgebäude fragen, die völlig fertig in der Mittagssonne brüten. Es ist wahrscheinlich der letzte prächtige Sommertag, Freibadwetter, und sie lagern auf Wegen und Rasenstücken, wahrscheinlich haben sie “Projektwoche Demokratie”. Und ebenso wahrscheinlich finden sie Politik voll scheiße und sehen aus, als ob sie in Ruhe gelassen werden wollen.

Demokratie in kubischen Zweckbauten

Einige Dutzend Teenager stehen im Foyer des Parlamentariergebäudes herum, zu sehen gibt es hier nicht viel von der Demokratie außer grauem Beton und langen futuristischen Gängen in kubischen Zweckbauten. Na ja, und diesen Herrn da im Sommeranzug, den sieht man öfter im Fernsehen. Typ lockerer französischer Bankbeamter an der Côte d’Azur, der mich da an der Sicherheitsschleuse abholt, hellblaue Krawatte, weißes Hemd, Sommeranzug aus Leinen, gebräuntes Urlaubsgesicht, gut sieht er aus, verdammt gut, aber das täuscht, denn das weiß jeder in Deutschland, er ist todkrank.

“Nein, wirklich”, sagt Wolfgang Bosbach später in seinem Büro, “zurzeit echt beschissen, eine neue Therapie”. Vier Jahre hatten ihm die Ärzte gegeben, zweieinhalb davon hat er abgelebt. Wolfgang Bosbach, 62, ist wahrscheinlich der berühmteste Krebskranke der Republik. Und sicher einer der beliebtesten Politiker.

Mit Bosbach beginnt diese kleine Reise zu wichtigen deutschen Konservativen. Mit dem Philosophen Hermann Lübbe wird sie enden, einem der sehr gut Bescheid weiß, was “Common Sense” ist.

Gerade kommt er von einer Sitzung zum Fernsehpreis zurück, er war nominiert für diese “Wer wird Millionär”-Sendung, wo er als Joker die Kanzlerin zog, die aber einfach nicht ans Telefon ging. Während er erzählt, schreibt er Autogramme auf Postkartenporträts, er arbeitet den Stapel ab, sieht cool aus, noch eins, noch eins, so, jetzt können wir.

Bosbachs rebellische Geradlinigkeit

Bosbach ist nicht wegen seiner Erkrankung beliebt, sondern aufgrund der Art, wie er mit ihr umgeht, offen und mit “Gottvertrauen”, wie er sagt, er zeigt rheinischen Humor und Menschlichkeit – und diese rebellische Geradlinigkeit, die in diesem Haus als Installation nachgebaut werden müsste, als Denkmal für die Demokratie. Teil dieser Installation müsste eine Video-Dauerschleife sein, in der ein wütender Parteikollege geifert: “Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen.” Bosbachs Vergehen: Er war seinem Gewissen gefolgt und hatte dem EU-Rettungsschirm nicht zugestimmt.

Das geht gaaaar nicht. Nicht in Merkels CDU. Wolfgang Bosbach ist störrisch und hat einen inneren Kompass, dem er folgt, durchaus auch gegen den Zeitgeist. Er ist gegen die Frauenquote und Mindestlöhne, ein übler Propagandist für Ehe und Familie und für hartes Durchgreifen auch bei Migranten.

Dieser katholische Politiker und Vater von drei Töchtern ist eigentlich ein Modell-Konservativer. Mittlere Reife, Lehre, Filialchef in zwei Jahren, Abitur nachgeholt, Betriebswirtschaftsstudium, dann Jura, beide Staatsexamina, Kanzlei, Politik. Eine Laufbahn so geradlinig wie ein Highway in Arizona. Ein Überzeugungstäter, der überzeugt. Sechsmal wurde er direkt in den Bundestag gewählt. In der Fraktion war er zuständig für Recht, Innenpolitik, Flüchtlinge, Kunst, Medien.

Er fordert die offene Auseinandersetzung mit der AfD

Er ist der Wertkonservative, so eine Art Gewissen der Partei oder ihrer historischen Echos. Er nervt seine Partei als Mitglied des “Berliner Kreises”, der gerade ein Positionspapier zum Umgang mit der AfD veröffentlicht hat. Darin wird die Strategie des Fraktionschefs Volker Kauder kritisiert, die AfD totzuschweigen, was nach deren jüngsten Traumergebnissen ja offenbar nicht funktioniert hat.

Bosbach fordert nun eine offene Auseinandersetzung, eventuell eine programmatische Neuausrichtung. Worauf Kauder den Bann ausweitete und nun dazu aufrief, auch Bosbach und seinen Kreis zu ignorieren.

“Dabei sind das doch keine braunen Dumpfbacken”, sagt Bosbach, “ich hab sie im Wahlkampf erlebt und wie sie die Leute angesprochen haben.” Viele der AfD-Programmpunkte hat die CDU “noch vor zehn Jahren selber vertreten”, das heißt, in Zeiten, bevor die CDU von dieser unwiderstehlichen Technikerin aus dem Osten, dieser komplett ideologiefreien Pragmatikerin Angela Merkel übernommen wurde.

Werte, die erhaltenswert wären

“Was ist konservativ, Herr Bosbach?” “Ich halte es mit Paulus, der in irgendeinem Brief, wahrscheinlich Römer, sagt: Prüfet alles und behaltet das Beste.” Es ist der Thessalonicher-Brief. Werte, die erhaltenswert wären. Das ist der Tenor vieler Briefe, die Bosbach dieser Tage erreichen, er deutet auf einen Tisch in der Ecke, auf zwei Stapel mit Briefmappen, jeder einen halben Meter hoch. “Rund 10.000 Briefe im Jahr”.

Bosbach, der Katholik, trat in die CDU aus wertkonservativen Gründen ein, damals bekannten gerade prominente Frauen auf einem “stern”-Titel “Wir haben abgetrieben”.

“Die meisten darunter waren nicht gerade in einer Notlage”, sagt Bosbach. Einer wie er ist für den Schutz des Lebens, übrigens nicht nur des beginnenden, sondern auch des endenden Lebens. Er lehnt Sterbehilfe genauso vehement ab wie Abtreibung.

Eine Koalition mit der AfD nicht vorstellbar

Ist Bosbach der “angry white man”, vor dem zwei Redakteurinnen der “Zeit” gewarnt haben? Er macht nicht den Eindruck. Immerhin hat ihm die Bürgergesellschaft Köln-Thielenbruch im vergangenen Jahr den Orden für “Zivilcourage und Charakter” verliehen. Und seit Neuestem ist er Ehrensenator, und zwar der Düsseldorfer Karnevalsgesellschaft Weißfräcke. Er muss ein bisschen balancieren zwischen den beiden Konkurrenzstädten. Im Bücherregal steht der Geißbock des 1. FC Köln. Gleich daneben die Büste des Düsseldorfers Heinrich Heine. Wir sind uns trotzdem einig, dass Basti Schweinsteiger ein Held ist.

Natürlich, sagt er, wird er nachdenklich, wenn auch innerhalb der Partei Diskursverbote erlassen werden. “Als ob man sich da anstecken tut.” Nee, er ist da wie Basti Schweinsteiger: tackern lassen und weitermachen. Eine Koalition mit der AfD allerdings als möglicher Mehrheitsbeschaffer für die CDU statt der implodierten FDP? Nein, das könne er sich nicht vorstellen, sagt er, die AfD sei zwar im Benennen von Problemen gut, böte aber – noch – keine politischen Lösungen an.

Steinbach ist wütend über die “Treibjagd”

Bosbach ist nicht der Einzige seiner Art. Telefonat mit Erika Steinbach, ebenfalls “Berliner Kreis”, bis November noch Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Sprecherin für Menschenrechte der Unionsfraktion, Mitglied des Fraktionsvorstands. Sie schäumt. “Es wird eine regelrechte Treibjagd auf Dissidenten veranstaltet”, sagt sie. “Der Gauland von der AfD, der war früher linke CDU, das sind doch vernünftige Leute.”

Ziemliches Kuddelmuddel aus Beleidigungen und Halbwahrheiten und taktischen Aussagen, wenn es um die AfD geht. Sie ist kontaminiert. Wer nicht von ZEIT-Redakteurinnen als “geistiger Berserker” beschimpft werden will, tut gut daran, Distanzierungen einzubauen.

Ist denn die AfD, von ihrem Selbstverständnis her, tatsächlich rechts von der CDU? Anruf bei Konrad Adam in Oberursel, dem ehemaligen “Welt”-Kollegen und Althumanisten, der mit Bernd Lucke die AfD gegründet hat. “Natürlich nicht”, sagt er, “wir sind quer zu allen Parteien.”

Er klingt müde am Telefon nach diesen tumultösen und triumphalen Tagen. “Jetzt müssen wir uns erweisen”, sagt er, “wir dürfen keine Fehler machen, weil alle darauf warten.” Tatsächlich ist das eine ungemütliche Situation, vor allem, wenn man so einen bunten Haufen vertritt, wo keiner weiß, ob da nicht weitere unangenehme Überraschungen drin sind, wie bei diesem Alterspräsidenten in Sachsen, der die Zugehörigkeit zu einer Rechtspartei verschwiegen hatte.

Das Euro-Argument war für Adam entscheidend

Für Adams politisches Engagement entscheidend war der Bruch des Maastricht-Abkommens, das eine gegenseitige Schuldenübernahme ausgeschlossen hatte, also das Euro-Argument. Sein politischer Säulenheiliger wäre Alexis de Tocqueville, der sich in der Nationalversammlung “ein wenig links von der Mitte” von einem Deputierten vertreten ließ.

Er erinnert sich an den Februar 2013 in Oberursel. “Ich hab den Saal angemietet und dachte, es kommt keiner, und plötzlich standen 2000 Leute da.” Er wird sich die Bereiche Familie und Bildung vornehmen. Was sich da ändern muss? “Das können Sie sich doch vorstellen, wenn Sie mein Antiken-Buch gelesen haben.” Habe ich. Und begeistert rezensiert. Paidaia, die Idee der Erziehung, wie wundervoll sie zu Beginn unseres Abendlandes ausgeformt war. “Wir sind natürlich für eine Vielzahl von differenzierten Schulangeboten”, sagt Konrad, und das klingt, als schlösse das Schulen ein, die noch Noten vergeben.

Was er für konservativ hält? Er kommt mit einem Zitat des verstorbenen Oxford-Politologen Michael Oakeshott: “Konservativ sein heißt, das Vertraute dem Unbekannten vorzuziehen.” Eine Menge Deutsche tun das in diesen Tagen, wer will es ihnen verdenken, der Horizont sieht nicht sehr vielversprechend aus. Doch es geht weiter das Zitat, und zwar sehr britisch, denn vorzuziehen sei auch “das Begrenzte dem Unbegrenzten, das Brauchbare dem Vollkommenen und die Fröhlichkeit dem utopischen Glück”. Besser kann man den Vorzug des britischen Common Sense über den deutschen Idealismus des Königsbergers nicht formulieren.

Professor Lübbe überrascht die AfD überhaupt nicht

“Gesunder Menschenverstand” ist eine in der AfD-Rhetorik oft benutzte Formel. Und Common Sense ist die zentrale Kategorie des Philosophen Hermann Lübbe, 87, der in Münster im Garten sitzt. Lübbe, konservativ, zeitweise SPD-Mitglied und Staatssekretär in Nordrhein-Westfalen. Den Professor überrascht die AfD überhaupt nicht. “Ist doch selbstverständlich, nachdem die CDU so sehr nach links gerückt ist.”

Ich stelle mir den Alten vor, Google zeigt ein waches Asketengesicht, unterm Apfelbaum, vielleicht ein erstes Exemplar seines neuen Buches “Zivilisationsdynamik” vor sich, Untertitel “Ernüchterter Fortschritt”, also das Buch eines Skeptikers.

Was etwas anderes ist als das eines Nazis. Der er übrigens offenbar auch mal war, 1944. Kann gut sein, dass sie ihn einfach reingeschrieben haben in diesen letzten Kriegsmonaten. Lübbe, eine politisch tadelsfreie Gelehrtenkarriere, eine einflussreiche philosophische Figur mit seiner “Kompensationstheorie”. Er nennt Dinge, die in einer enthemmten, beschleunigten Welt wichtig werden. Bindungen zum Beispiel, an die Familie, an die Bürgerschaft, Nation. Der Glaube.

Über die Verehrung der Götter streiten

Für Lübbe sind Themen wie Einwanderung in unsere Sozialsysteme nicht indiskutabel, auch nicht, dass die traditionelle Familie zur “Zukunftssicherung” gehöre und aus diesem Grunde unter besonderem Schutz des Grundgesetzes stehe. “Darüber muss man doch reden dürfen.”

Über die bemerkenswerte deutsche Sucht zu Rede- und Denkverboten hielt Lübbe bereits 2006, Jahre vor Sarrazins “Tugendterror”, einen Vortrag vor der Friedrich-Naumann-Stiftung. Er trug den Titel: “Correctness – Über Moral als Mittel der Meinungskontrolle”.

Sicher, so führte Lübbe damals aus, gebe es bei uns die Meinungs- und die Redefreiheit. Jeder dürfe alles sagen. Das hieße aber noch lange nicht, dass er, nun ja, alles sagen darf. Denn es gebe die herrschende Moral und das Indiskutable. Bei Aristoteles gehörte zum Indiskutablen, dass die “Götter geehrt und die Eltern geliebt werden” sollen. Jeder, der das bestreite, disqualifiziere sich moralisch und verdiene noch nicht mal eine Entgegnung.

Über die Verehrung der Götter und die Liebe zu den Eltern darf durchaus gestritten werden, na bitte!

Erschienen am 21.09.14 www.welt.de