Der geniale Abenteurer

Alexander von Humboldt war Naturforscher und Universalgelehrter – und der prominenteste Weltbürger seiner Zeit. 200 Jahre nach seiner legendären Amerikareise wird er jetzt mit Buchausgaben und Festakten als Vorbild-Deutscher gefeiert. Von Matthias Matussek
Als Alexander von Humboldt vor genau 200 Jahren, nach fünfjähriger Amerikareise, europäisches Festland betrat, wurde er bejubelt wie ein Wiederauferstandener. Bereits mehrfach hatten ihn Zeitungen für tot erklärt. Pariser Blätter behaupteten, er sei von den Indianern Nordamerikas getötet worden, der “Hamburger Korrespondent” meldete, er sei in Acapulco am Gelbfieber gestorben.
Doch Humboldt lebte, und er glänzte. Er
kehrte zurück als romantischer Eroberer.
Das Erstaunliche dabei: Er hatte keine Völker unterjocht, sondern Schmetterlinge gefangen. Seine Geländegewinne warfen nichts ab an Gold, an Sklaven, an Schürfrechten – sie galten ausschließlich dem Weltwissen.
Dabei waren seine Feldzüge, na ja: seine schmalen Expeditionstrupps, durchaus strapaziöser als manche militärische Erstürmung. Er hatte Urwaldströme befahren und den damals höchsten bekannten Berg, den Chimborazo bezwungen. Er war gleichzeitig Extremsportler und universeller Gelehrter.
Er war 35 Jahre alt und sah äußerst “einnehmend” aus, wie die Salondamen damals tuschelten. Hohe Stirn, blaue Augen, vollendete Manieren. Er hatte Witz und Verstand und an den Stulpenstiefeln den Lehm des Orinoco. Was für eine Mischung! Er hatte die unwiderstehliche Aura des Abenteurers.
Er war genauso alt wie Napoleon. Er war genauso berühmt wie Napoleon. Und er war einen Kopf größer.
Napoleon mochte ihn nicht. “Er war voller Hass gegen mich”, notierte Alexander von Humboldt. Das Zusammentreffen der beiden verlief eher knapp, und Napoleons Tiefschlag war klassisch: “Sie beschäftigen sich mit Botanik? Auch meine Frau betreibt sie!”
Sicher, im statistischen Vergleich hatte der französische Heeresführer dem deutschen Pazifisten einiges voraus. Napoleon hatte ein paar Völker unterworfen, den Kirchenkampf der Revolution beendet, Europa befriedet und stand kurz vor der Kaiserkrönung, die er an sich selbst vorzunehmen gedachte.
Humboldt dagegen konnte lediglich ein paar Dutzend Kisten mit gepressten Blättern vorweisen, mit ausgestopften Vögeln und Stapeln von Manuskripten voller Berechnungen und Karten und Zeichnungen.
Die Zeichnungen allerdings, die waren sehr schön.
Um es mit einem Satz zu sagen: Humboldt war der zugleich strahlendste und mutigste und sanfteste Held, den Deutschland je hervorgebracht hat.
Humboldt, der Entdecker, der Sternschauer, der Weltbürger – wenn es einen Vorzeige-Deutschen, einen MutmacherDeutschen geben sollte in diesen düsteren Tagen, dann ihn. In diesen Zeiten, in denen Folter und Massenmorde das großartige Projekt der Aufklärung täglich annihilieren, leuchtet aus Humboldt das, was der Mensch sein kann.
Der amerikanische Philosoph Ralph Waldo Emerson verglich ihn mit Aristoteles und Caesar und nannte ihn “eines jener Weltwunder, die von Zeit zu Zeit auftauchen, so als wollten sie uns die Möglichkeiten des menschlichen Geistes vorführen, die Kraft und den Rang seiner Fähigkeiten – einen universellen Menschen”.
Dieser Humboldt ist mehr als nur ein außergewöhnlicher Mensch – er verkörpert eine Haltung, ein Prinzip.
Das müssen sich auch die Verleger jener kleinen feinen “Anderen Bibliothek” gesagt haben, Hans Magnus Enzensberger und Franz Greno, die den verwegenen Humanisten 200 Jahre nach seiner triumphalen Amerika-Rückkehr jetzt auf die deutsche Tagesordnung setzen.
Ein durchaus kühnes Unternehmen in Zeiten, in denen es, zwischen Dschungel-Camp und Hartz-IV-Demonstrationen, bekanntermaßen ein ziemliches Gedränge an der Bühnenrampe gibt.
Da ist es schon eine Geste von grandioser Unverschämtheit, eine Event-Kette um einen auf seine Weise verschollenen Wissenschaftler zu inszenieren, ihn zurückzuholen und heute aufzustellen, mit TV-Interviews, Schlosskonzerten, erlesenen Tafelrunden.
Humboldt hat Friedrich den Großen erlebt, Goethe, Thomas Jefferson und Napoleon die Hand geschüttelt, aber in der ZDF-Hitparade “unserer Besten” rangiert er auf Platz 61. Das ist knapp hinter der ehemaligen Formel-1-Pleite Heinz-Harald Frentzen, aber noch vor Campino von den “Toten Hosen”. Da ist also noch Luft nach vorne, müssen sich Enzensberger und Greno gesagt haben, als sie nun Humboldt auf die Bühne schoben.
Nun weht Humboldt wie eine siegreiche bunte Fahne auf Pop-Plakaten vor dem Kronprinzenpalais auf dem Berliner Boulevard Unter den Linden. Humboldt wird annonciert als eine Art Poster-Boy deutschen Wissenschaftsstolzes. Mit prominenter Unterstützung, der von Günther Jauch zum Beispiel: “Humboldt war Europas Kosmonaut.” So was ist kommerziell wertvoller als jede “FAZ”-Besprechung, denn Jauchs Werbespruch ist die ideale Bauchbinde für den Buchverkauf.
Tatsächlich geht es bei diesem Humboldt auch um ein einzigartiges bibliografisches Unternehmen, um ein Bestseller-Projekt in feinstem Leinen: Enzensberger-Greno wollen die bisher nie auf Deutsch erschienenen “Ansichten der Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas” in einer prachtvollen, fernverrückten, traumhaft schön illustrierten Ausgabe unters Volk bringen.
Eine Schande, dass es das Werk auf Deutsch bisher nicht gab. Und als die Berliner Humboldt-Wissenschaftler Oliver Lubrich und Ottmar Ette Enzensberger davon erzählten, war dieser zunächst ungläubig, dann erstaunt, dann enthusiasmiert – in genau dieser Reihenfolge.
Das also ist Humboldts Rückkehr, erneut, diesmal vors deutsche Publikum! Und das ist sein Angriff auf die deutsche Mutlosigkeit: der Luxus des Wissenwollens.
Seine nun wiederaufgelegten Bücher sind bibliophile Kostbarkeiten, für die Wirtschaftsmäzene als Paten gesucht werden, die sie an deutsche Gymnasien stiften. Vielleicht ist es ja tatsächlich möglich, dass sich trotz aller Pisa-Depressionen ein ziemlich toter, ziemlich radikaler Vorbild-Wissenschaftler zwischen all die mediokren Methusalems in die Bestsellerlisten schiebt.
Wo er hingehört. Sein “Anden”-Buch etwa ist ein ethnologischer Traum, ein
Schmöker-Foliant für die Gelehrten- und Jugendzimmer, mit Zeichnungen von Wilden und von romantischen Schluchten und mit den allerpackendsten Reiseerzählungen, die den Vorteil gegenüber denen Karl Mays haben, dass sie wahr sind. Dazu illustrierte Fundstücke wie den großen Platz einer untergegangenen Stadt in Mexiko, die Hieroglyphen, die Kalender der Azteken.
Der zweite Schlag aus dem Haus der Anderen Bibliothek: Ein Sternstaub-glitzernder Foliant, der schlicht und selbstbewusst “Kosmos” heißt. Es ist Humboldts Lebenswerk, an dem er drei Jahrzehnte lang bis zum Tage seines Todes gearbeitet hatte.
Im letzten, dem fünften, Band bricht das Manuskript ab, inmitten einer Meditation über den Granit, über Versteinerungen, als sei der Alte von seiner eigenen Monumentalisierung eingeholt worden. In den Skizzen zu diesem Kapitel findet sich ein Wort aus der Genesis. “Also war vollendet Himmel und Erde mit ihrem ganzen Heer.”
Alexander von Humboldt, der Ausnahmedeutsche, war der Schöpfung auf der Spur und war in seiner Wissenswelt selbst zum Schöpfer geworden.
Sein Ehrgeiz: Alles damals verfügbare Wissen der Welt in einem einzigen Werk zu sammeln. Sein Kosmos, der sollte wie göttliche Ordnung und Schönheit zugleich sein. Sicher, nicht weniges davon ist überholt. Nicht überholt allerdings sind die Anschaulichkeit und das Feuer, die diese Seiten beseelen: Die Wissenschaft als Abenteuer. Und dieses geglückte Leben.
Es war Alexander von Humboldt, 1769 geboren, der die Fenster zur Welt aufge-
rissen hatte in jenem vermufften, verspießerten Berlin, das außerhalb der jüdischen Salons der Rahel Varnhagen und der Mendelssohns absolute geistige Steppe war.
Der naturwissenschaftliche Vorlesungsbetrieb ließ, um es höflich zu sagen, durchaus zu wünschen übrig. Es gab einen Professor, der die Sonne als eine Art Küchenofen erklärte und deren dunkle Flecken als Rußhaufen, während ein anderer sich dafür entschied, die Pyramiden seien in Wahrheit Vulkane.
Ziemlich früh entschied sich Alexander von Humboldt, beidem auf die Spur zu kommen, der Sonne wie den Pyramiden, und er wollte sich nicht auf Mutmaßungen verlassen, sondern auf Berechnungen. Und auf Reisen.
Seine Phantasie hatte sich entzündet an den Beschreibungen Georg Forsters, der Captain Cook auf seinen Weltumsegelungen begleitet hatte. Von politischen Idealen ließ er sich durchaus forttragen – mit Forster zusammen erlebte er, als 21-Jähriger,
den nachrevolutionären Einigungs- und Befreiungstaumel in Paris, den ganzen Enthusiasmus und aufgerissenen Horizont einer neuen Zeitrechnung, bevor der Aufbruch im Blut, das von der Guillotine floss, ertränkt wurde.
Seine Kindheit beschreibt Alexander als “trübe und öde”. Seine Mutter ist gefühlskalt, er hält sich an seinen älteren Bruder, an seine brillanten Hauslehrer, die ihm die Enge jedoch nicht nehmen können. Immer will er diesem Tegeler Familiensitz entrinnen, von dem er Briefe in alle Welt hinausschickt, die er unterzeichnete mit den Worten “Schloss Langweil”.
Sein Bruder schreibt mit bewunderndem Tadel über ihn. Alexander sei geltungssüchtig und müsse immer im Mittelpunkt stehen.
Allerdings: Kaum einer verstand es, den Mittelpunkt so prächtig auszufüllen wie er. Es war schwierig, ihn in einem überfüllten Raum zu übersehen. Er wirkte auf Männer und auf Frauen. Er war ein Götterkind, ein lautes.
Er interessiert sich für alles, und ganz besonders für Geologie. Er lernt geografische Orte zu bestimmen. Bereits mit 23 Jahren ist er Oberbergmeister und übersieht die Minen des Reichs, deren Erträge er, auf Grund genauer Berechnungen und Modernisierungsvorschläge, enorm steigert.
Nebenbei entwickelt er Atemschutzgeräte und Grubenlampen. Schlaf und Mahlzeiten übrigens hält er für Zeitverschwendung. Er ist genau der tatendurstige Unternehmer-Deutsche, nach dem offenbar zu allen Zeiten Bedarf herrscht. Sein Gesicht ist offen, klar geschnitten, spöttisch. Es ist ein zukunftsfrohes Gesicht dieses 26-Jährigen in dieser Zeichnung von François Gérard.
Doch er ist durchaus zu Leidenschaft, zu romantischer Liebe in der Lage – seine Briefe an den geliebten jungen Freund, der für ihn weit mehr als nur ein Freund war, sind sehnsuchtsvolle Schwärmereien.
Die Welt, die er rastlos in seinen Kutschen durcheilte, war noch mittelalterlich kleindeutsch, eine, die in oben und unten, in Junker und Bauern aufgeteilt war und Schlafmützen in allen Lagern hatte. Bis auf Goethe und Schiller, jene Leuchttürme in Weimar und Jena, deren Kegel die Humboldt-Brüder durchaus interessiert erfassten.
Wilhelm von Humboldt, der Sprachforscher, war wohlgelitten. Bruder Alexander dagegen, der Unruhige, schlug ein mit der Gewalt eines Blitzes. An ihm schieden sich die beiden großen Geister der Weimarer Klassik. Goethe, der Naturforscher, schrieb seinem Herzog: “Sie können in einer Woche nicht so viel aus Büchern lernen, wie er ihnen in einer Stunde erklärt.”
Schiller dagegen, der idealistische Naturschwärmer, sah, bei “allem ungeheuren Reichtum des Stoffes, eine Dürftigkeit des Sinnes” sowie “nackten schneidenden Verstand, der die Natur, die immer unfasslich und in allen ihren Punkten ehrwürdig und unergründlich ist, schamlos ausgemessen haben will”.
Womit der edle Schiller natürlich völlig Recht hatte. Wenn es Humboldt um irgendetwas ging in dieser halbdunklen, von Mythen und theologischen Erwägungen durchwobenen Welt, dann war es das:
Schamlos ausmessen.
Hinausgehen.
Reisen.
Isothermische Linien zeichnen.
Höhenprofile anfertigen.
Gesteinsproben nehmen.
Kurz, Humboldt warf Schiller “Breiigkeit des Gefühls” vor, und er hatte Goethe wahrscheinlich heimlich auf seiner Seite.
Ende 1796 stirbt seine Mutter, gerade zur rechten Zeit, wie man herzlos anfügen muss, denn sie hinterlässt das Vermögen, das Humboldt nun finanziell völlig unabhängig stellt. Schicksalswendungen wie diese eröffnen immer zwei Möglichkeiten: Entweder benutzt man sein Wissen, um das Geld zu mehren, oder das Geld, um sein Wissen zu mehren.
Was von Humboldt zu lernen ist, ist das Letztere: einen Traum, wie immer er auch aussehen mag, mit allergrößter Zähigkeit zu verfolgen, ein Leben lang und selbst dann noch, wenn es letztlich in den finanziellen Ruin führt. Und Humboldts Traum ist groß wie die Welt selbst.
1799 rüstet er für seine erste große Expedition, nicht unvorbereitet – er bringt sich Arabisch und Persisch bei. Da ihm jedoch Napoleon, der Gleichaltrige, der andere Eroberer, mit seinem Ägypten-Feldzug die Nil-Erkundung zu den Stätten der Pharaonen versperrt, orientiert er sich um. Eine Audienz beim spanischen König verschafft ihm einen Freibrief mit Zugang zu allen spanischen Besitzungen in der Neuen Welt – der Potentat ist schwer beeindruckt davon, dass Humboldt Spanisch parliert. Nun, mit dem königlichen Siegel, hält der junge Abenteurer unverhofft den goldenen Schlüssel zu Amerika in den Händen.
Die folgende Reise ist das Kernunternehmen seines Lebens. Diese Reise ist sein “Faust” , sein “Don Giovanni”, seine “Relativitätstheorie” – sie ist die Rechtfertigung
seiner irdischen Existenz. Mit ihr, mit diesem Unternehmen, hat er die Welt berührt.
Bewunderer sprechen später davon als der zweiten Entdeckung Amerikas – eine Marmorstatue vor der Humboldt-Universität, eine Stiftung Kubas, rühmt ihn mit diesen Worten. Fünf Jahre sollte die Reise dauern, doch die Auswertung wird die folgenden 30 Jahre in Anspruch nehmen und sein ganzes Vermögen verzehren. Ein biografisches Vabanque, das aufgeht: 36 Bücher, die, würde es bibliophile Weltwunder geben, ganz vorne mit dazugehören.
Er wird von diesen Reisen Exponate mitbringen wie jenen grünen Malachit oder jenen bleichen Brocken vom Chimborazo, die, von ihm selbst beschriftet, im Berliner Museum für Naturkunde in samtbeschlagenen Fächern aufgehoben sind. Womöglich bringt sich heutzutage jeder Pauschalreisende, jeder Abenteuer-Urlauber so etwas mittlerweile für die Schrankwand mit nach Hause.
Der Unterschied zwischen beiden: Das eine wurde unter
Lebensgefahr und mit großer Ehrfurcht geborgen, um den menschlichen Horizont aufzureißen und zu öffnen für die Wunder der Welt. Das andere ist nur eine Erinnerung an Uschi und passt zur Tapete. Bei Humboldt gibt es nichts Triviales. Heutzutage dagegen ist alles trivial.
Diese gepresste Pflanze vom Orinoco ist selbstverständlich eine besondere, weil sie von Humboldt geknickt wurde. Er hat ihr den Namen gegeben – und damit in gewisser Weise erst die Existenz. Die Schöpfung, nach Humboldt!
Seine Expedition ins Ungewisse beginnt mit einer Art Auflockerungstraining. Er bereist Spanien und Teneriffa und nimmt ausführliche Vermessungen vor. Er trainiert sein Gerät. Er führt rund 50 Instrumente mit, Sextanten, Längenuhr und Teleskope, Inklinationsbussole für geomagnetische Messungen, Hygrometer und alles, was damals messingglänzende Präzision versprach
und state of the art war und für teures Geld zu kriegen war.
Er gibt ein wenig an. Er nimmt Klimazonen-Bestimmungen des Pico de Teide auf Teneriffa vor und legt dabei eine kleine sportliche Sonderzugabe hin. Er besteigt den Vulkankegel, der ihm den Gehrock versengt, in 15 Stunden ohne nennenswerte Verschnaufpausen.
Beobachtet wurde er dabei von den Damen der Gesellschaft über Fernrohre, die er selbst zur Verfügung stellte. Die Damen übrigens zeigten sich darüber hinaus entzückt von weiteren interessanten Gerätschaften des jungen Adligen, besonders von dessen Mikroskop: Sie konnten damit die Flöhe in ihren eigenen Haarflechten beobachten.
Die sich anschließende 22tägige Überfahrt in die Neue Welt, die den Atlantik zur venezolanischen Küste überquert, findet auf einem übel ausgestatteten spanischen Seelenverkäufer statt, auf dem, als auf Höhe der Antillen die Hitze unerträglich wird, Typhus ausbricht.
Humboldt muss feststellen, dass noch nicht einmal chininhaltige Chinarinde mitgeführt worden war. So beklagt die Expedition ein frühes Todesopfer, einen armen asturischen Jungen, den seine Mutter in die Neue Welt geschickt hatte, damit er dort sein Glück finde.
Indianer, stoische Bronzefiguren in Einbäumen, lotsen die spanische Korvette in den Hafen von Cumaná. Doch bevor Humboldt von Bord geht, setzt er sich mit einem der Kaziken zusammen und unterhält sich mit ihm, auf Spanisch, über die Wunder, die vor ihm liegen. Es ist ein beschwörender Vorgriff auf Heldentaten unter dem Kreuz des Südens, dem endlosen Tropenhimmel.
Womöglich hat Napoleon, am Vorabend entscheidender Schlachten, ähnliche Gespräche geführt. Über Proviantierungen, über Truppenstärken. Doch er hatte nur Generäle bei sich, Humboldt dagegen einen Mit-Träumer für diesen lebensentscheidenden Aufbruch, einen, der mit ihm die Poesie des Forschers teilt: die Vision einer allumfassenden Natur.
Man kann mit einigem Recht sagen, dass Humboldts Traum der kühnere war.
Von diesem vorgreifenden Traum übrigens, diesen imaginierten Reichtümern der Natur schwärmt er seinem Bruder in einem Brief vor, von der ganzen tropischen Üppigkeit. “Wunderbare Pflanzen, Zitteraale, Tiger, Armadölle, Affen, Papageien … Welche Bäume! Kokospalmen, 50-60 Fuß hoch”.
Nach der Erkundung der geheimnisumwitterten Höhle von Guácharo, in denen seltsame Nachtvögel hausen, deren Ölbälge sich die Indios mit langen Stangen für ihre Feuerstellen holen, rüstete Humboldt zur ersten großen geografischen Erkundung: Er will beweisen, dass es zwischen den gewaltigen Flusssystemen des Orinoco und des Amazonas mit seinen Schwarzwasserflüssen eine Wasserverbindung gibt. Einen nach Süden verlaufenden Kanal zum Rio Negro.
Wer sich je auf den stinkenden, moskitoverseuchten Wasserstraßen durch den Regenwald gekämpft hat, aus denen abgestorbene Äste ragen wie skelettierte Arme und in denen Piranhas das trübe Wasser aufschäumen lassen, der weiß, dass das Ganze mit Romantik nichts zu tun hat, sondern mit Fieber, mit Parasiten, mit mörderischen Strapazen.
Es regnet jeden Tag, Stunde um Stunde, bis zur absoluten Zermürbung. Die Kleidungsstücke werden wochenlang nicht trocken. Man lernt, von Nüssen zu leben und von Maden. Gelegentliche Delikatessen sind das glitschige weiße Alligatorenfett. Humboldt isst Affenfleisch. Er probiert Ameisenpaste. Und er erweist sich als erstaunlich resistent.
Er, der in seiner Jugend kränkelte, blüht geradezu auf in den Tropen. “Nie habe ich mich in meinem Leben gesünder gefühlt”, notiert er in seinem Tagebuch.
Überhaupt, die Tagebücher. Sie sind mit einer feinen, präzisen, vorwärtseilenden Schrift geführt, sammeln alles, notieren Daten, Flusskrümmungen, skizzieren Fische, entwerfen endlose Tabellen, alle Eindrücke, und dort, wo Worte nicht reichten, wurden Piktogramme, schematische Zeichnungen, Bilder eingefügt. Der Wissenschaftler als Reporter, als Frontschwein, wenn auch künstlerisch – noch heute lässt sich in den Beständen der Berliner Staatsbibliothek an den Flecken, den Rissen, den Wölbungen ablesen, unter welchen Feldbedingungen sie entstanden.
Oft fällt dort unten in den stehenden Seitenarmen der Flüsse das schiere Atmen schwer. Man schluckt Moskitos, man atmet Moskitos, man würgt Moskitos. Moskitos fressen einen bei lebendigem Leibe. Zum Schlafen gruben sich die Expeditionsmitglieder ein und legten sich ihre Hemden über den Kopf.
Parasiten fressen sich unter die Haut, in langen Kanälen, um dort ihre Eier zu legen. Humboldt ließ sie sich von geduldigen Indiofrauen in stundenlangen Prozeduren mit langen Dornen freistechen.
Ein berühmtes Bild des Malers Eduard Ender zeigt den Forscher ermattet, in lässig gelockertem Hemd und geöffneter gelber Weste. Der Strohhut ist zu Boden geglitten, im Hintergrund der Hütte lehnt sein treuer Gefährte Bonpland an einem roh gezimmerten Holztisch, auf dem sich Sextanten, Vermessungsgeräte, Orchideen, Beerenbündel türmen.
An dem Bild stimmt nichts. Doch immerhin zeigt es die romantisch geschönte Ermattung über ein tödliches Wuchern, dem mit Klassifizierung kaum nachzukommen ist. 3600 Arten wird Humboldt später bestimmt haben, eine noch heute respektierte Pionierleistung – doch wie verloren angesichts der vorgefundenen Fülle. Und das ist Humboldts Genie – dennoch loszulaufen und nicht aufzugeben.
Humboldt selbst übrigens war Wissenschaftler genug, um allen Tropen-Romantisierungen entgegenzuwirken: “Man macht sich im Allgemeinen nicht klar, dass die uralten Wälder in Südamerika, die so fruchtbar scheinen, tatsächlich eine Art Wüste sind und dass es durchaus möglich ist, dort zu verhungern.”
Er hat seinen eigenen Körper zur Beobachtungsstation für Gifte und Halluzinogene gemacht. Es gab kaum etwas, das er nicht an sich selbst ausprobiert hätte. Das berüchtigte Niopo, notiert er, erzeuge wahnsinnige Zustände. Das Pflanzengift Curare, das Schweine innerhalb von sechs Minuten tötet, schmecke dagegen angenehm
bitter – man müsse nur darauf achten, keine offenen Stellen im Mund zu haben!
Einmal hatte sich einer seiner Socken versehentlich mit Curare vollgetränkt, er war gerade im Begriff, ihn sich über seinen mit aufgekratzten Flohstichen wunden Fuß zu ziehen – knapp entging er dem Tod. Es war beileibe nicht das einzige Mal.
Den Rousseauschen edlen Wilden traf er durchaus, doch der war gewöhnungsbedürftig.
Einer erklärte ihm stolz, wie er seine Frau mästete, um sie anschließend zu verspeisen. Humboldt stieß auf Kannibalen, er stieß auf Skelette und löste um ein Haar eine Stammesfehde aus. Seine Stärke: Er blieb von neugieriger Liebenswürdigkeit, von völliger Vorurteilsfreiheit, von geradezu kaltschnäuzigem wissenschaftlichem Interesse. Die Natur war grausam und schön zugleich, und darin interessierte sie ihn.
Über Humboldts Leistung im Rio-Negro-Gebiet wird noch heute voller Respekt gesprochen. Ein spanischer Padre in der Missionsstation von São Gabriel da Cachoeira schwärmte von ihm, dem Atheisten. Ein schwerer Tropenregen wusch die Pflanzendüfte von den Blättern und trug sie herüber, hoch über den Fluss, und der Padre sprach vom Atheisten Humboldt, der nie einen Indio totgeschlagen habe, wie es die Konquistadoren im Zeichen des Kreuzes getan hätten. “Nie hat er versucht zu bekehren – er hat versucht, ihre Sprachen, ihre Mythologien zu verstehen.”
Dieser Respekt vor dem ganz Anderen ließ ihn plötzlich auch die griechische Antike neu lesen. In den mächtigen Maya-Tempeln und Ruinenanlagen, die er in Mexiko besuchte, sah er ebenbürtige Kulturleistungen. Und er begriff beide Völker, die
Griechen wie die Maya, als faszinierende “Wilde” überkommener Epochen.
Es war die Grundhaltung des Respekts, die Humboldt auf dem ganzen südamerikanischen Kontinent zum Volkshelden macht. Sicher war er kein Revolutionär. Doch noch immer klangen in ihm die Echos der emanzipatorischen Ideale der französischen Revolution nach. Er begriff, dass die Welt nach 1789 eine neue war.
Gegen die Sklaverei auf Kuba schrieb er so wütend an, dass das Werk dort verboten wurde. Dass die spanische Herrschaft über den Kontinent ihrem Ende zusteuerte, spürte er. Er wisse jedoch keinen Mann, sagte er zu Simón Bolívar, als er ihn 1805 in Rom traf, “der die Kolonien zur Freiheit führen” könne. Acht Jahre später schlug Bolívar die Spanier in einer vorentscheidenden Schlacht, ließ sich Jahre später zum Imperator wählen und begann die lange Kette von Caudillismo und Revolten, die Lateinamerika bis heute schütteln.
Humboldt, ein deutscher Held im Ausland: Es gibt kaum eine Möglichkeit, in Südamerika nicht auf ihn angesprochen zu werden.
In Caracas etwa, in einem leer stehenden Bankgebäude, das zu einer Filiale des Bildungsministeriums umgewandelt wurde. Humboldts Büste war der einzige Schmuck. Sie war kurz nach dem Wahlsieg des einstigen Operetten-Putschisten Hugo Chávez, der sich als Vollstrecker Simón Bolívars feiern ließ, dort aufgestellt worden.
Es gab nichts in dem nackten Raum außer diesem Kunstledersofa, der Gummipalme und der Büste Humboldts. Und die bejahrte, kultivierte Professorin, die mit großer Ehrerbietung sagte: “Es war Humboldt, der Humanist, der Bolívar inspirierte.” Sie sprach nicht von Chávez, nicht von Bolívar. Sie sprach von Humboldt, dem Ausnahme-Deutschen. Und, melancholisch, von seiner “Bildung und vornehmen Größe”.
Dieser Tegeler Edelmann mit der gelben Weste pirschte ohne alle modernen Hilfsmittel an Jaguaren und Schlangen vorbei, getrieben von nichts als der Neugier auf die gewaltige Schöpfung – und das unterschied ihn gewaltig von den Schlangen des Berliner Wissenschaftsbetriebs.
Das unterschied ihn später, vor allen anderen, auch von Hegel. Letzterer erklärte die Welt vom Schreibtisch aus. Humboldt zog hinaus und vermaß sie. Hegel, in seinem Vorlesungssaal, hielt den neuen Kontinent für eine “schwächliche Angelegenheit”. Humboldt, der Wissenschaftshaudegen, machte vor, dass man ein Kerl sein musste, um neben sechs Meter langen Krokodilen zu bestehen.
Angesichts von Humboldts Besteigung des Chimborazo, des damals höchsten bekannten Berges, müssen Extremsportler mit ihren Plastikcapes und Profilsohlen noch
heute erzittern – und jeder Bergsteiger-Profi muss heute den Kopf schütteln über die Naivität, mit der Humboldt zum Gipfelsturm auf den Sechstausender ansetzte.
Humboldt trug seinen Gehrock. Gegen die Kälte hatte er sich einen Poncho übergeworfen. Die Stulpenstiefel hatten sich bald mit Schneewasser vollgesogen, zudem litt er an einer schmerzhaften Fußverletzung. So stieg er über einen kaum 30 Zentimeter breiten Grat bergan. Oft zog er sich auf allen vieren voran. Links ein endloses abfallendes Schneefeld, rechts der steile Abgrund mit schroffen Felsen. Die Hände bluteten von den scharfkantigen Felsen, an denen man sich vorwärtszog, die meiste Zeit über im Nebel.
Nach und nach verschwanden die Träger, die der Höhenkrankheit nicht gewachsen waren, von Schwindelgefühlen gepackt. Die Bindehaut der Augen Humboldts war blutunterlaufen. Plötzlich riss der Nebel auf, und der Mann notierte: “Es war ein ernster, großartiger Anblick.”
Da der Grat kurz unterhalb des Kraters weggebrochen war, blieb der Gipfel uner-
reicht. Doch über 30 Jahre lang hielt Alexander von Humboldt den Höhenrekord der Welt. Nicht schlecht für einen, der eigentlich Griechischlehrer werden sollte.
Typisch für Humboldt war, dass er bei all dem penibel seine Aufzeichnungen führte: in welcher Höhe er den letzten Schmetterling antraf und welche Form die Hagelbrocken hatten, die sie beim Abstieg überraschten.
Wie Humboldt über die menschliche Emanzipation nachdachte, kann kaum schöner, kaum poetischer illustriert werden als in jenem Stich aus seinem Andenbuch, der die Reisegesellschaft am Quido-Pass zeigt: Zu jener Zeit war es üblich, dass sich weiße Herren tragen ließen, auf Stühlen, die auf die Rücken ihrer Diener geschnallt waren. Doch Humboldt lief lieber zu Fuß. Und er hielt die Szene fest, die schaukelnde Lastgesellschaft, die Träger, doch mittendrin einer, der aufrecht steht und dessen Stuhl, der ihm noch auf den Rücken geschnallt ist, leer ist.
Er schaut auf seinen Betrachter, auf Humboldt. Mit einem leichten Staunen. Er übt den aufrechten Gang. Und er lächelt. Es ist der freie Mensch, der aus Humboldts Werk grüßt, einer, der die Fesseln abwirft und etwas aus sich macht.
Als der Forscher Humboldt 1804 zurückkehrt, nicht ohne sich vorher mit dem amerikanischen Präsidenten Thomas Jefferson über die Sklavenfrage und die Grenzziehung zu Mexiko unterhalten zu haben, ist er neben Napoleon der berühmteste Mann der Welt.
Der Korse ist soeben dabei, Europa zu verwüsten. Auch der Landsitz der Humboldts wird geplündert. Die nationalen Stimmen, die sich um Humboldts Bruder Wilhelm gruppieren, rufen ihn während der Befreiungskriege vergebens nach Hause, nach Berlin.
Humboldt zieht trotz aller politischen Wirren die Welthauptstadt Paris vor. Hier sind nun mal die hervorragendsten Wissenschaftler vereint, wie François Arago, Maler und Schriftsteller wie Jean Auguste Ingres und François René Chateaubriand, die Drucker und Verlage und Illustratoren – hier will er sein Werk vollenden.
Die Gipfelerstürmung liegt hinter ihm, nun folgt die zähe Arbeit in der Etappe.
Dennoch ist er immer wieder in diplomatischer Mission im Auftrag des preußischen Königs unterwegs. Humboldt ist Weltmann. Er versteht es, Menschen für sich einzunehmen. Er ist ein blendender Erzähler, eine imposante polyglotte Figur. Er versteht es zu verhandeln, auch wenn ihn das politische Geschacher, das verlogene Diplomatengewäsch im Grunde anwidern.
Nicht, dass er nicht selbst auszuteilen versteht. In einem überlieferten Gespräch mit Schleiermacher, den er Unter den Linden trifft, erzählt er mit boshafter Schärfe von Hof-Intrigen und den frömmelnden Bigotterien, die er dort über sich ergehen lassen muss.
Die Reaktion, die auf den Sieg über Napoleon folgt, verengt das geistige Klima in Deutschland zu einem spießbürgerlichen Spitzelstaat, in dem es kaum Luft zum Atmen gibt. Da sitzt Humboldt in Paris sicherer und freier.
Doch 1827 ruft ihn König Friedrich Wilhelm III. endgültig nach Berlin, um erstens der Akademie der Wissenschaften Glanz zu verleihen und zweitens, um ihn als täglichen Tischgast bei sich zu haben. Humboldt
erzählt. Er stöhnt. Er liest vor. Er hält das alles für Zeitverschwendung, während die Königin stickt. Entwürdigend!
Doch in Berlin ist er eine Sensation.
“Sein Kommen und Gehen”, schrieb der Journalist Karl Gutzkow, “war wie Posaunenklang. Er trat auf wie Shakespearesche Könige.”
Nachdem die 36-bändige Auswertung der Andenreise mit seinem finanziellen Ruin, sonst aber glückhaft abgeschlossen ist, stürzt sich Humboldt auf sein nächstes großes Projekt: die “Kosmos”-Vorlesungen.
Er setzt an zu einer neuen “Pubertät”, von der Goethe als Bedingung des Genius sprach – einer immer wieder auftretenden Jugendkraft, sich in Abständen neu zu erfinden und in Projekte zu verlieben.
In Berlin führt Humboldt nun vor, wie gewinnend es sein kann, sein Publikum nicht zu unterfordern, eine Tatsache, die auch heutzutage noch Gültigkeit hätte, wenn man es denn einfach ab und zu versuchte. Er beginnt seine Vorlesungsreihe über den komplizierten Aufbau des Firmaments, über neptunische und vulkanische Theorien der Kontinentalerhebungen, über den Streit um die Erdwärme.
Das Verrückte: Er elektrisiert den Berliner Wissenschaftsbetrieb regelrecht damit. Sein Trick: Er würzt seine Vorträge mit Erlebtem. Er will das, was er erforscht hat, buchstäblich unter die Leute bringen. Ihnen unter die Haut reiben. Der Eintritt ist frei. Die Singakademie mit ihren 800 Plätzen ist dem Ansturm nicht gewachsen. Zwei Kürassiere werden ohnmächtig hinausgetragen.
Alle pilgern dorthin: Lehrer, Bäckermeister, Ladenmädchen, Laufburschen, Professoren, Adlige, Handwerker, eine große bunte demokratische Utopie der Wissensgemeinschaft. Viele Frauen darunter. “Der Saal fasste nicht die Zuhörer, und die Zuhörerinnen fassten nicht den Vortrag.” Das sind so die Sottisen, die ein derartiges, nie zuvor erlebtes Event begleiteten – Humboldt präsentierte Natur-Wissenschaft als hinreißendes Erlebnis.
Er war wohl der Erste, der mit seinen insgesamt 16 Vorlesungen zum massenwirksamen Gelehrsamkeits-Guru wurde, zum großen Popularisierer, der der Menge den Sex-Appeal von Wissen vermittelte, und zwar einem, das erlebt, erforscht, durchdacht und sinnlich vermittelt war.
Sein Verleger möchte die Vorlesungen mitschreiben und als Buchreihe veröffentlichen lassen. Doch Humboldt war nicht auf die schnelle Vermarktung aus, sondern auf Exaktheiten, die auch in Zukunft noch Bestand haben sollten. Er beginnt seine Buchreihe, die er schlicht und erhaben “Kosmos” nennt.
“Ich habe den tollen Einfall, die ganze materielle Welt, alles, was wir heute von den Erscheinungen der Himmelsräume und des Erdenlebens wissen … alles in einem Werke darzustellen.” Dieser tolle Einfall beschäftigte ihn die letzten drei Jahrzehnte seines Lebens, bis zum letzten Atemzug.
Trotz seiner wissenschaftlichen Arbeiten, die ihn die Nächte hindurch umtreiben, ist er als preußischer Staatsrat mit allen möglichen offiziellen Aufgaben beschäftigt. Er ist in vielen Gebieten zu Hause, das ist überhaupt die Ausgangslage für sein Projekt. Er ist das Gegenteil des Fachidioten.
Daneben setzt er sich für Freunde wie Heinrich Heine ein – in Maßen. Er ver-
brennt sich nicht die Finger, und wenn es darauf ankommt, erinnert er durchaus an Heines Gehässigkeiten Ludwig Börne gegenüber. Insgesamt ist er wohl einer, der politisch seine Ruhe haben möchte. Das, was man früher scheißliberal nannte. Allerdings: Viel genützt hätte er den Vormärzianern als Metternichs Häftling sowieso nicht.
Obwohl seine Hauptarbeit nun dem “Kosmos” gilt und seinen geduldigen Berechnungen und Essays, ist sein Abenteurertum längst nicht ausgeglüht. Der russische Zar finanziert ihm einen lang gehegten
Traum – eine Reise bis zum Ural, ja darüber hinaus, bis an die chinesische Grenze.
Selbstverständlich hatte der Zar den Hintergedanken, von Humboldt, dem Geologen, Aufschlüsse über ausbeutbare Minenvorkommen zu erhalten. Und Humboldt lieferte prompt. Er, der Glücksgeborene, entdeckt eine Diamantenmine. Der Zar ließ ihm einen der Edelsteine zukommen, der heute ebenfalls im Berliner Museum für Naturkunde zu betrachten ist.
In rund sechs Monaten legte er etwa 15 000 Kilometer zurück, davon 750 auf Flüssen. 12 244 Postpferde waren dabei verschlissen worden. Ach ja: Alexander von Humboldt war zu jenem Zeitpunkt 60 Jahre alt.
Seine Kondition, seine wissenschaftliche Neugier, seine Ausdauer sind nach wie vor die eines jungen Mannes. 9000 Werke wertet er für seinen “Kosmos” aus. Noch nachts um drei können ihn die Berliner am erleuchteten Fenster in der Oranienburger Straße Nummer 67 sitzen sehen. Wegen einer Armverletzung schreibt er seine Manuskripte auf dem Schoß. Notizen kritzelte er auf seinen Fichtentisch. Wenn nichts mehr drauf passte, wurde er abgehobelt.
Er korrespondiert mit den Koryphäen der Zeit. Er schreibt rund 2000 Briefe pro Jahr, insgesamt sollen es 50 000 gewesen sein. Er ist das, was heute als Networker bezeichnet wird. Er schafft die Vorformen zu internationalen Think-Tanks. Ehrungen, die er erhalten hat, verachtet er fast alle. Reden und Bankette hält er für Zeitverschwendung. Als ihn eine russische Ehrendelegation mit dem göttlichen Prometheus vergleicht, wird er unwirsch.
Sein “Kosmos” war nun das Lebensprojekt, das die politischen Stürme überdauern sollte, die Reaktion und die Revolution und den Beginn des Industriezeitalters.
Doch er blieb sich und seinen ethischen Prinzipien treu. Der zweite Band des “Kosmos” war gerade erschienen, als er im Trauerzug hinter den Gefallenen der März-Revolution hinterherschritt und ihnen seinen Tribut zollte. Sicher, er stand im Solde eines reaktionären Königs, doch sein Herz schlug für die Emanzipation, die immer auch die der Wissenschaft war.
Er war ein Volksheld eigener Art, und selten hat die Menge ein so feines Gespür für die Zwangslagen eines so Großen gehabt. Das revoltierende Volk vor dem Schloss rief nach ihm. Er trat hinaus und verneigte sich stumm.
“Das Große und das Gute zu erfüllen”, das schrieb er sich in seiner Jugend in einem Brief als Lebensmaxime auf. Er ist ihr sehr nahe gekommen.
In seinem “Kosmos” sah Humboldt einen universellen Bauplan, in dem das Ganze und der Mensch in steter Wechselwirkung stehen. Er hatte den Ehrgeiz, in vielen Einzeldisziplinen das damals Beste aufzubieten: die Geologie genauso zu beherrschen wie die Botanik, die Zoologie, die Kosmologie, den Galvanismus, die Meteorologie, die Elektrophysiologie.
Er untersuchte die Atmung der Fische, die Meteoritenschauer über Venezuela, die Hieroglyphenkalender der Azteken. Und die schönen Künste und die gegenwärtigen Philosophien, und natürlich ging ihm nicht verloren, dass Goethe in seinen Wahlverwandtschaften Ottilie seufzen lässt: “Wie gern möchte ich nur einmal Humboldten erzählen hören!”
Die Meteorologie, die Wassergewinnung, die Friedensforschung, das Projekt einer universellen Bibliothek, eines World Wide Web, ja selbst der Panama-Kanal – lauter Projekte, die auf Humboldt zurückgehen.
Noch immer saß er an den abendlichen Tischgesellschaften des Königs, doch der versuchte nun häufig durch halblaute Gespräche und heftiges Folianten-Blättern die Monologe des Alten zu unterbrechen.
Bismarck berichtet über die letzten Tage Humboldts. “Auf dem Gipfel des Popocatépetl …” versuchte sich der Alte Gehör zu verschaffen, nur um, immer wieder erneut, übergangen zu werden. Nichts ist so überholt wie der Triumph vom Vortag.
Doch nun, 200 Jahre später, wirkt er mit einem Mal frisch und unverbraucht. Humboldt, der Ausnahme-Deutsche, der letzte
Universalgelehrte, ist so gar nicht überholt. Sicher kann, angesichts der Spezialisierungsexplosionen der Einzelwissenschaften, kein Mensch mehr alles Wissen der Welt gleichzeitig überblicken.
Aber ist es nicht merkwürdig, wie sehr interdisziplinäre Projekte wieder an Attraktivität gewinnen, wie die Kulturstrategen, aber auch die Naturwissenschaftler auf Ganzheitlichkeitsmodelle zustreben, wie neben der Zersplitterung die Zusammenschau an Zulauf gewinnt?
Ist es ein Zufall, dass etwa Bill Brysons populärwissenschaftlicher Kosmologie-Schmöker “Eine kurze Geschichte von fast allem” die Bestsellerlisten stürmt?
Was Humboldt in uns heute noch entzündet, ist das Eros des Wissens. Er führte ein deutsches Vorbild-Leben, ein beispielhaftes Leben, das man sich als geglücktes vorzustellen hat und das andere Menschen zu berühren vermochte und sein Glück weiterzugeben verstand.
Weshalb die folgende Geschichte eine schöne Schlussanekdote unter dieses reiche fast 90-jährige Leben bildet:
Es ist diese Geschichte des schönen schwarzhaarigen Mädchens, das einen Pariser Frisiersalon betrat und seine schwarzen Haare zum Kauf anbot, verzweifelt, weil es die kranke Mutter mit dem Geld unterstützen musste. Der Friseur wollte ihr statt der geforderten 60 Franc nur 20 geben.
Da erhob sich ein alter weißhaariger Herr, erbat sich die Schere des Friseurs, und wählte vorsichtig ein einzelnes Haar, das er abschnitt. Und er drückte dem Mädchen zwei Geldscheine dafür in die Hand, die es erst später als 200 Franc identifizierte.
Von Alexander von Humboldt aber ist zu vermuten, dass ihn von all den zigtausend Proben, die er in seinem Forscherleben aufgenommen hat, diese eine mit einem besonderen Glücksgefühl erfüllt haben muss. Denn er war ein Menschenfreund.
Er erlebte die Vollendung des fünften Bandes des “Kosmos” nicht mehr. Er schlief in den Tod, inmitten der Schlussarbeiten an seinem
Lebenswerk, in der Oranienburger Straße 67, friedlich.
Hinter seinem Sarg formierte sich der Staat. Es war der imposanteste nichtmilitärische Trauerzug in der Geschichte Berlins. An der Spitze des Leichenzuges gingen vier königliche Kammerherren, zu Chopins Trauermarsch, gefolgt von Staatsministern, dem diplomatischen Corps, Parlamentariern und Studenten.
Das Volk nahm Abschied von seinem Größten, einem Universalgelehrten, einem Weltbürger. Und einem guten Deutschen.
Und wie dachte der unruhige Welteroberer, der rastlose Wissenschaftler, der von Ehrungen überhäufte Diplomat über sein voll gepacktes, geglücktes Dasein?
“Der Tod ist das Ende des Zustands der Langeweile, den wir Leben nennen.”
Mehr nicht?


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